frischen Morgenwellenschlag des Sees, unterm unendlichen silberblauen Morgenhimmel, bei dem die mächtigen Berge wie alte tausendjährige Propheten saßen, eigentlich nicht mehr Kraft ausstrahlte als die silberne Flaumfeder einer Seemöwe, die zwischen ihr und mir jetzt eben in der Gartenluft vorüberschwebte.
Freilich, gestern in der Rembrandtbeleuchtung des nächtlichen Gartens, wo die Welt rundum schwarz ausgelöscht war, lebte ihr weißes Fleisch magnetisch im Kreis der Männer. Und heute Abend, das wußte ich, würde es wieder mit gleicher Kraft seine Anziehung ausstrahlen. Der Tag aber wollte Gegenwart, lebende Wirklichkeit. Die Nacht nur ist wie von Vergangenheit ausgefüllt, und alle Dinge wachsen dann in Jahrtausende zurück, machen eine Rückentwickelung durch, vergrößern sich im Finstern und nehmen Gestalten der Urzeit an, Gestalten vorsündflutlicher, ausgestorbener Geschlechter. Es ist, als würden dann in der Finsternis jene Formen wieder lebendig, von denen wir Menschen nur Ahnungen aus den Gesteinschichten bekommen, wenn wir die Abdrücke versunkener Riesengeschlechter, gigantischer Farren und gigantischer Amphibien finden, – Gestalten, von denen wir
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/326&oldid=- (Version vom 31.7.2018)