hatte und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so zart, daß das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben sie legte, wo sie gerade saß.
Häcksel war über den unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde, die die Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den Bergleuten und ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich jeden Abend unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall lag neben den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß unter der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube zum Ziehen der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen und wurden mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln und in den Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin eilten sie, wenn die Feierabendstunde nahte.
„Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes Kind,“
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018)