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vom Wege der Sünde, und demütig dem zu folgen, der allein Wahrheit, Licht und Leben wäre. „Nach all dem Kummer, den du deinen Eltern bereitet hast, wirst du ihnen die Schande nicht antun, vom Altar des Herrn fern bleiben zu wollen.“ Ich schwieg auch jetzt, trotz der beziehungsreichen Pause, die er eintreten ließ. „Du wirst die Zeit bis dahin zur Einkehr, zur Buße, zum Gebet verwenden.“ Wieder eine Pause. „Und wie Gott im Himmel seine Hand nicht von dir abziehen, und Jesu Christi Blut auch dich rein waschen wird von deinen Sünden, so werden deine lieben Eltern dir verzeihn. Ich werde mit Gottes Hilfe die Schwergeprüften aufrichten und dich ihnen wieder zuführen.“ Ich schwieg noch immer. „Wirst du tun, was ich, der Diener deines Herrn und Heilandes, von dir fordere?“ Ein mechanisches „Ja“ war meine Antwort.

Während der Wochen bis zu meiner Einsegnung lebte ich wie ein Automat; ich fühlte weder Reue noch Kummer, und die Gedanken waren wie ausgelöscht. Nur als ich zum erstenmal das lange weiße Konfirmandenkleid anprobierte, zuckte mir ein krampfhafter Schmerz durch den Körper. Den Mund kaum zu einem Lächeln verziehend, begrüßte ich die vielen Verwandten, die zu dem feierlichen Tage nach Posen kamen: Onkel Walter aus Pirgallen mit seiner jungen Frau, die eben auf der Hochzeitsreise waren, Onkel Kleve aus Bayern, Tante Klotilde aus Augsburg, die befriedigt die „würdige Stimmung“ ihrer Nichte anerkannte. Als aber am Sonnabend vor Pfingsten, einem herrlichen lachenden Maientag, vor dem ich mich verschüchtert in mein dämmriges Zimmer verkrochen hatte, die Türe aufging und

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)