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wie getragen von einem breiten Strom von Licht, meine Großmutter in ihrem Rahmen erschien, war mir plötzlich, als fiele ein schwerer, eiserner Panzer von mir ab, der mich eingezwängt und aufrecht erhalten hatte. „Großmama, liebe Großmama,“ rief ich und brach aufschluchzend vor ihr zusammen. Ach, warum war ich nicht zu ihr geflüchtet, warum kam sie erst jetzt, – jetzt, da es zu spät war?! Tief erschüttert schloß sie mich in ihre Arme, und ich weinte mich aus. Aber dann kam Mama, und der Abend im Kreise der Familie, und die Nacht …

Widerstandslos ließ ich mich am nächsten Morgen schmücken, nahm den Strauß weißer Rosen in die Hand und stieg mit den Eltern in den Wagen. Die ganze Straße stand voll Menschen, – wie bei einem Begräbnis, dachte ich. Auch vor der Kirche sammelten sich die Neugierigen in ihren bunten fröhlichen Festtagskleidern. Durch die Fenster flutete die Sonne, so daß ich geblendet die vom Weinen heißen Augen schloß, als ich zwischen Vater und Mutter auf rotem Teppich durch die weite, weiße Säulenhalle schritt. Die Glocken läuteten, brausend setzte die Orgel ein, laut dröhnten über mir die kräftigen Stimmen des Soldatenchors. Jeder Ton schnitt mir messerscharf in die Seele. Es blitzte und funkelte ringsum von Uniformen und Orden und raschelte von seidenen Kleidern. Ich sah nicht auf. Da schlug ein ganz leiser, weher Laut, wie „Alix“ an mein Ohr. Ich hob den Kopf. Es war mein Lehrer, der mich mit einem Blick ansah, – einem Blick, der mir rätselhaft schien. Und dann standen wir vor dem Altar. Er war ringsum mit einem Wald von Palmen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/143&oldid=- (Version vom 31.7.2018)