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Verstand zehnmal ja gesagt hatte, so warf das Nein meiner Sinne all seine Weisheit über den Haufen. Meiner Sinne – nicht meines Herzens. Allzu häufig floß es von Mitleid über, das der Liebe so ähnlich sieht; wenn ich mir dann aber vorstellte: der Mann soll dich küssen, soll von dir Besitz ergreifen – körperlich! –, dann haßte ich ihn beinahe.

Wir waren noch in Pirgallen, als ein Telegramm meines Vaters eintraf. „Brigade in Schwerin“ – nichts weiter stand darin. Die Freude war allgemein und bei mir am größten; meine Abneigung, nach Brandenburg zurückzukehren, beeinflußte im Stillen meine Entscheidung Ollech gegenüber. Die neue Garnison, der kleine Hof, die fremde, Neugier und Hoffnung in gleicher Weise wachrufende Umgebung gaukelten mir lauter lichte Zukunftsbilder vor. Als wir auf dem Wege nach Berlin im Zuge saßen und meine Mutter die Schicksalsfrage stellte: „Soll ich Ollech benachrichtigen?“ bedurfte es keiner Überlegung mehr. Ordentlich komisch kam mirs vor, daß ich jemals zwischen „Ja“ und „Nein“ hatte schwanken können.

Während der Übersiedelung der Möbel blieben wir in Berlin. Meine Mutter kannte keine größere Freude, als ohne Haushaltungs- und Gesellschaftszwang in der Hauptstadt zu sein. Während sie unermüdlich von einem Museum, einem Theater zum anderen ging, jede Ausstellung durchwanderte, die Läden von innen und außen betrachtete, verschwanden die scharfen Linien um ihren Mund und machten dem Ausdruck kindlichen Genießens Platz. Sie vergaß dabei sogar ihre Erziehungsgrundsätze und nahm mich in Possen und Operetten mit, die sich im Grunde gar nicht „schickten“.

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/253&oldid=- (Version vom 31.7.2018)