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Pflichten waren für diesen Winter erledigt, meine Gesundheit bot stets willkommenen Vorwand zu frühen Landaufenthalten; es bedurfte nur einer Ansage, und ich konnte schon in den nächsten Tagen in Pirgallen eintreffen. Unter dem Schutz einer Bekannten, deren Anwesenheit mich zur Selbstbeherrschung zwang, fuhr ich nach Berlin, wo Onkel Walter, der zum Reichstag dort war, mich in Empfang nahm.

„Na, du machst ja nette Streiche,“ war sein erstes Wort. Peinlich überrascht sah ich auf. „Wir hatten dich eigentlich ein paar Wochen hier behalten wollen,“ fuhr er fort, „aber deine Affäre ist so sehr in aller Munde, daß es besser ist, wir lassen Gras darüber wachsen, ehe du dich zeigst.“ Seine Frau benützte die Gelegenheit, um über meine „mißglückten Pläne“, meinen „bestraften Ehrgeiz“ kleine bissige Bemerkungen zu machen, so daß ich erleichtert aufatmete, als ich im Zuge nach Königsberg saß.

Mit einer Zärtlichkeit, die mir noch inniger schien als früher, und die das einzige war, wodurch Großmama mir ihr Wissen verriet, schloß sie mich in die Arme. Es war so still, so friedlich in ihren grünen Zimmern, hinter den dicken Mauern, als ob es in der ganzen Welt gar keine Stürme gäbe. Aber schon nach wenigen Tagen sollte ich an sie erinnert werden. Gleichzeitig kamen von meinen Eltern zwei Briefe an. Ich öffnete den von Mama zuerst – ich fürchtete mich instinktiv vor dem anderen.

„Dein Vater“, schrieb sie, „ist in einer solchen Aufregung, daß ich es für nötig halte, seinen Brief nicht ohne den meinen abgehen zu lassen. Die Versetzung nach

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/309&oldid=- (Version vom 31.7.2018)