Bromberg traf ihn wie der Blitz aus heiterem Himmel. Wenn sie auch gewiß keine direkte Zurücksetzung bedeutet, so hängt sie sicherlich mit Deiner traurigen Angelegenheit zusammen, die höhern Orts nicht unbemerkt und nicht ungerügt bleiben konnte. Möchtest Du daraus endlich die Lehre ziehen, daß Du Deine Launen und Leidenschaften im Zaum halten mußt, wenn Du nicht Dich und Deine Eltern zugrunde richten willst …“
Mit zitternden Händen riß ich Papas Brief auf. Er lautete:
„Mein liebes Kind! In der Bibel steht, daß die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden, aber die andere bittere Wahrheit, die ich am eignen Leibe erfahren muß, steht nicht darin: daß die Väter für die Sünden der Kinder büßen müssen. Ich bin zum Chef der Landwehr-Inspektion in Bromberg ernannt worden, – das ist nichts anderes als eine ehrenrührige Strafversetzung, die ich mit meinem Abschiedsgesuch beantworten würde, wenn ich nicht genötigt wäre, weiter zu dienen, um meine Familie zu erhalten …“
Ich konnte der Tränen nicht Herr werden, als ich Großmama die Briefe zu lesen gab. Mit ihrer schmalen kühlen Hand strich sie mir über die heiße Stirn und sagte begütigend: „Dein Vater übertreibt in der Erregung gern ein bißchen, mein Alixchen; es ist gewiß nicht so schlimm, wie es ihm erscheint, und du wirst es ihm nun auch tapfer und liebevoll tragen helfen.“ Aber ich ließ mich nicht so leicht beruhigen. Ich schwelgte förmlich im selbstquälerischen Bewußtsein einer Schuld, die mir doch nicht als bewußte Verschuldung erscheinen konnte.
„Es ist mein Schicksal, allen, die mich lieben, Unglück
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/310&oldid=- (Version vom 31.7.2018)