„mein Interesse dafür ist immer im Wachsen, und immer wieder finde ich, was mich fast von Kindheit an – damals noch wie eine Ahnung – erfüllte: daß wir uns trotz allem, was den Blick momentan verdunkeln mag, unaufhaltsam vorwärts bewegen. Wehe denen, die hemmen wollen, sei es in der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, oder der Politik! – Nur eins schmerzt mich oft bis zur Verzweiflung: daß ich nur Zuschauer bin und weder beim Niederreißen des Alten, noch beim Aufbauen des Neuen tatkräftig eingreifen kann.“
An anderer Stelle heißt es: „Auf dem Wege meiner stillen Studien bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß unsere Entwicklung wie auf einer Wendeltreppe vorwärts schreitet. Zuerst lernt man mechanisch, ohne zu verstehen, dann lernt man verstehen; aus beiden folgt das eigene Denken, und erst auf diesen drei Stufen erhebt sich der persönliche Mensch und fängt nun scheinbar von vorn an: er lernt, er versteht, er denkt – oder er entzündet das trocken aufgehäufte Pulver des Verstandes mit dem elektrischen Funken seines eigenen Geistes und sprengt damit die starren Formelmauern, um nun selbst Licht und Wärme zu verbreiten. Auf jeder Stufe bleiben viele Menschen stehen; darum wird man mit dem Vorwärtsschreiten immer einsamer und läßt viele hinter sich zurück, die nicht gleichen Schritt mit uns hielten.“
Soweit meine Kusine sich auf Diskussionen einließ, trat sie mir entgegen. Sie verteidigte z. B. die Heroengeschichte gegenüber der Kulturgeschichte; sie suchte mir zu beweisen, daß die Könige, Staatsmänner und Feldherrn die Geschichte „machen,“ während ich erklärte,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/371&oldid=- (Version vom 31.7.2018)