Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt!“
Wie sich der Heißhungrige über jeden Bissen stürzt, so warf ich mich über jede Möglichkeit des Erlebens und der Arbeit.
Zu jener Zeit starb der alte Kaiser, und im Märtyrerschicksal seines Nachfolgers begann der Tragödie letzter Akt. Mit jener steigenden Erregbarkeit meiner Nerven, die auch die Ereignisse außerhalb des eigenen Schicksals zum persönlichen Erlebnis werden ließ, verfolgte ich die Berichte der Presse, dachte des „neuen Herrn,“ der nun kam, dessen verkümmerter Arm mich vor Jahrzehnten schreckte, und der, seit jenem Gespräch mit Graf Lehnsburg, seltsam drohend sich meinem Vater entgegenzustrecken schien. Die alte Welt versank, – der Todeskampf Friedrichs III. war auch der ihre. Und mit wilder Zerstörungslust schienen die Elemente ihn zu begleiten. Unaufhörlich strömte der Regen, aus ihren Ufern traten die Flüsse, die Dämme brachen – tausende stiller Heimstätten wurden vernichtet, Hunderttausenden armer Menschen drohte Hunger und Elend. Und ich saß hier im gesicherten Schutz unseres Hauses mit gebundenen Händen! – In fieberhaftem Eifer schrieb ich die Märchen nieder, die ich meinem Schwesterchen im Laufe der Jahre erzählt hatte. Ich schickte sie aufs geratewohl einem Königsberger Verleger, mit der Bestimmung, den etwaigen Erlös den Überschwemmten zuzuführen. „Veröffentlichungen dieser Art liegen außerhalb unseres Gebiets,“ schrieb er, und rasch entmutigt warf ich sie ins Feuer. Kurz darauf wurde ein Dilettantenkonzert zum Besten
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/373&oldid=- (Version vom 31.7.2018)