der Leutnant dann noch einmal, und die Soldaten trieben uns alle gegen die Häuser. Da drängte sich die Mutter vom Franz mit dem Kleinsten an der Brust durch die Reihen – der Junge ist ihr Ältester, ihren Mann brachten sie ihr voriges Jahr tot aus der Grube –; sie hatte ihn grade erwischt, als der Herr Offizier noch mal losschrie –“
„‚Immer die Augen auf den Feind halten,‘ sagte er. Ich hab’ es ganz genau gehört,“ ergänzte ein blasses Ding mit fanatisch funkelnden Augen die Worte der Erzählerin.
„Den Feind, – damit meinte er uns!“ riefen sie alle durcheinander und selbst auf den Wangen der Müdesten und Stillsten erschienen rote Flecken.
„Da wars aus mit der Ruhe bei den Knappen – sie drohten mit den Fäusten, sie schimpften, auch ein paar Steine flogen …“ Die Erzählerin schluchzte auf.
„Dann schossen sie auf uns –“ sagte mit tonloser Stimme die Alte. Und nun schwiegen sie alle – nur verhaltenes Weinen unterbrach die Stille.
Ich griff mir an den Kopf, – es war doch wohl nur ein böser Traum, der mich narrte?! Es brauste mir in den Ohren, das Entsetzen schnürte mir die Kehle zusammen.
„Dem Franz seine Mutter war die erste, die fiel –“ wie aus weiter Ferne schlugen die Worte wieder an mein Ohr. „Ich sah sie dicht vor mir – die Haare ganz voll Blut, – das Jüngste an die Brust gepreßt – und den Stock noch in der Hand, den sie dem Franz entrissen hatte …“
War ich es, die qualvoll aufstöhnte – oder war es ein Ton, der sich uns allen entriß?!
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/406&oldid=- (Version vom 31.7.2018)