aber gar Tränen zwischen den Wimpern hervor, so zog sie einen zerknitterten Brief aus der Tasche, mit seinen Schriftzügen dicht bedeckt, und las ihn, den sie schon fast auswendig wußte, wieder und wieder. Er lautete:
„Mein geliebtes Enkelkind!
Deine Mutter schreibt mir, mit welch ruhigem Ernst Du Dich in die neue Lage gefunden hast, und wie treulich Du all die Pflichten, die sie Dir auferlegt, erfüllst, so daß ich Dich nun ganz besonders meiner zärtlichen Liebe und freudigen Anerkennung versichern möchte. Ich habe oft gefürchtet, die kleinen Teufel der Eitelkeit möchten von meiner Alix reinem Herzen schließlich Besitz ergreifen; vielleicht hat die Führung Gottes, die uns kurzsichtigen Menschen oft grausam erscheint, auch für Dich den rechten Weg gefunden, auf dem Dein besseres Selbst sich voll entfalten kann. Ich habe, wie Du weißt, von Anfang an den Abschied Deines Vaters nicht so tragisch genommen als alle anderen, als vor allem er selbst. Je älter wir werden, desto gleichgültiger erscheinen uns solch äußerliche Begebenheiten. Daß es freilich eine harte Schule gerade für Hans ist, der an seiner empfindlichsten Stelle, – seinem Selbstbewußtsein, seinem Ehrgeiz, – getroffen wurde, weiß ich nur zu wohl. Aber er ist stark und gut genug, um sie schließlich bestehen zu können, wenn Ihr alle, Du besonders, mein Kind, an der er mit all seiner Zärtlichkeit hängt, ihm in geduldiger Liebe beizustehen nie unterlassen werdet und er für seine ungebrochene Kraft eine Tätigkeit findet, die ihr entspricht.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/436&oldid=- (Version vom 31.7.2018)