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Gewiß, mit Freuden würd’ ich den Aufsatz schreiben, antwortete ich; viele wertvolle Erinnerungsblätter von der Hand der Verstorbenen seien in meinem Besitz, die ich zu veröffentlichen die Absicht hätte, und überaus dankbar würde ich ihm sein, wenn ich dabei auf seine Hilfe rechnen könne. Umgehend erhielt ich noch einen Brief, worin mir der Gelehrte seinen Beistand zusicherte. Ich strahlte: das war ein Anfang, – der erste Schritt zur Unabhängigkeit, und vielleicht – zum Ruhm!

An einem jener leuchtenden Herbstabende, wie sie nur im Norden Deutschlands vorkommen, näherten wir uns Berlin. In hellem Violett, das hie und da ins Rosenrote überging, lag der Dunst der Großstadt über den Häusern, verwischte ihre Häßlichkeit und verlieh ihnen einen Schimmer phantastischen Lebens. Feuchtglänzende Schienenstränge liefen vor uns her und dehnten sich nach allen Seiten, – zahllose Polypenarme, die sich verlangend dem gewaltigen Ungeheuer der Stadt entgegenstreckten, das mit roten, grünen und weißen grellglotzenden Augen gierig Ausschau hielt nach neuer Beute. Ein schwarzer Rachen, öffnete sich die Halle des Bahnhofs. Mit Gezisch und Geratter brauste der Zug hinein – Rauchschwaden stiegen auf – ein letztes Ausatmen seiner Maschine – ein kurzer, harter Stoß noch – und Berlin hatte ihn verschlungen. Aufgeregt, rücksichtslos, erwartungsvoll schoben und drängten sich die Menschen. Mir aber war, als müßten meine Füße den grauschwarzen Asphalt sanft und schmeichelnd berühren: Neuland war es, das ich betreten hatte.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/457&oldid=- (Version vom 31.7.2018)