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Aber – da wir zwei die Wahrheit zu vertragen scheinen, so sag ichs frei heraus: Ihre Dummheit ist noch nicht erschöpft. Sie haben Ihr Gewissen sogar mit einem Verbrechen beladen. Sie haben der Kunst ethische Motive angedichtet. Die Kunst ist Kunst, – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie hat eine neue Schönheit entdeckt, die der Wahrheit – der Häßlichkeit meinetwegen –, die muß sie darstellen. Im Wort, im Bild, im Ton. Aber nützen und bessern will sie nicht, soll sie nicht.“

„Mag sein, daß das nicht ihre Absicht ist. Auch die Blume blüht und duftet und ist schön und vollendet, selbst wenn sie nicht zur Frucht werden wollte. Aber die Frucht kommt ohne ihre Absicht.“

Es zuckte ironisch um die Mundwinkel meiner Begleiterin. „Ihr Vergleich hinkt. Die Blume muß sterben, soll die Frucht ihre Folge sein. Die Kunst aber blüht und ist immer Frucht und Blume zugleich.“

Wir waren über kaum angelegte Straßen, an Kartoffelfeldern vorbei bis zu der alten Linde gelangt, die mitten in der Straßenkreuzung des Kurfürstendamms und der Tauenzienstraße stand, ein letzter Zeuge jener Vergangenheit, wo die lauernde Schlange der Großstadt die Natur noch nicht bis zum letzten Rest in ihrer Umarmung erdrosselt hatte.

Wir trennten uns mit einem Händedruck und doch eben so fremd wie vorher. Nicht zu jenen gehörte ich, deren Gast ich eben gewesen war, und nicht zu ihr. Wohin denn? …


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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/476&oldid=- (Version vom 31.7.2018)