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Am nächsten Morgen schrieb ich an meine Verwandten nach Weimar und kündigte meinen Besuch an. In die Arbeit wolle ich mich stürzen, das würde wieder das Beste sein.

Vor meiner Abreise kam die Familie noch einmal vollzählig bei uns zusammen: Onkel Walter mit seiner Frau, die Potsdamer Kleves, Vetter Fritz und Vetter Hermann Wolkenstein, der als Offizier auf keine Karriere zu rechnen hatte und daher zur Diplomatie übergegangen war. Auch Tante Jettchen, das Familienorakel, war gekommen, sehr alt, sehr gebrechlich, aber mit ihren scharfen klugen Augen doch noch alles sehend, alles beobachtend, und in ihrem Urteil härter denn je. Ihr Kopf schien nichts als ein Lexikon der Familie zu sein. Sie kannte die Schicksale der entferntesten Verwandten. Mich mochte sie nicht: daß ich als Kind auch nur wochenlang eine jüdische Schulfreundin gehabt hatte, war ein unauslöschlicher Makel in meiner Erziehung. Heute jedoch ließ sie sich meinen Handkuß auf das gnädigste gefallen.

„Es freut mich, freut mich sehr, daß du nach Weimar gehst,“ sagte sie, „für verschrobene Köpfe wie deinen ist das gut – sehr gut. Literarisch angehauchte Frauenzimmer haben dort Aussicht auf Hofkarriere.“ Ich lächelte unwillkürlich: Professor Fiedler hatte auch von der „Karriere“ gesprochen!

Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Familienereignisse. Von den Vettern, die um die Ecke gegangen waren, und die, statt wie früher nach Amerika, jetzt nach den Kolonien abgeschoben wurden, um als Kulturträger

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/477&oldid=- (Version vom 31.7.2018)