trotzdem der Rausch der Farben und der Töne eines Böcklin, eines Liszt und Wagner ihr Auge und ihr Ohr getroffen hatte, standen sie inmitten der weichen Märchenträume Schwindscher Wälder, und in ihrem Inneren klangen die Volksweisen Felix Mendelsohns.
Ich arbeitete jeden Vormittag in den Räumen des Goethe-Archivs, hoch oben im linken Schloßflügel, durch dessen Fenster der Blick weit über den Park hinweg schweifen konnte und das Ohr nichts vernahm als das leise Geschwätz zwischen der plätschernden Ilm und den grünen Baumblättern über ihr. Die gelehrten Herren, die mit mir arbeiteten, behandelten mich mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die Mauern aufrichtet zwischen den Menschen. Sie beantworteten meine Fragen, sie brachten mir, was ich brauchte, sie verbeugten sich tiefer vor mir, als es nötig gewesen wäre, aber ich fühlte trotzdem die Geringschätzung des deutschen Gelehrten vor dem Weibe, das in seine Kreise dringt. Doch je länger ich in Weimar war, desto dichter umhüllte mich eine Atmosphäre des Weihrauchs, die mich nicht nur unempfindlich, sondern auch unnahbar hochmütig machte. Nur einer, der Direktor, ein geistvoller Sonderling, begegnete mir wie ein Mensch dem Menschen. Zuweilen aber kam es vor, daß ich seine väterlichen Ermahnungen, seine klugen Ratschläge, seine sarkastischen Kritiken nicht mehr vertrug. Nicht nur die Eitelkeit, die in der Treibhausluft der Salons so üppig gedieh, auch die Ungeduld, die mich oft mitten in der Arbeit packte, trug daran die Schuld.
„Man degradiert sich zum Lumpensammler bei dieser ewigen Papierkorbarbeit,“ rief ich einmal empört, als ich eine Notiz, die mir fehlte, durchaus nicht finden konnte.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/487&oldid=- (Version vom 31.7.2018)