Der Direktor, der mir während der letzten Stunden geholfen hatte, sah mich stirnrunzelnd an.
„Sie sind sehr jung und sehr voreilig, gnädiges Fräulein,“ sagte er scharf. „Wer zur Vollendung eines Mosaikbildes ein einziges Steinchen braucht und Kisten und Kasten, selbst Bergwerke darnach durchforscht, der leistet eine wertvollere Arbeit, als mancher, der ein ganzes Gemälde in zwei Stunden hinpatzt. ‚Beschränkung ist überall unser Loos‘ sagt unser Meister, und mit vollem Bewußtsein einseitig werden, ist der Ausgangspunkt tüchtiger Leistung.“
„Beschränkung ist überall unser Loos“, – das bohrte sich in mein Gehirn – ich suchte von da an meine Steinchen und unterdrückte mein Murren.
An einem Lenztag, der so reich war, als hätten alle Lieder der Sänger Weimars sich in Duft und Glanz und Farben verwandelt, fuhren wir hinauf nach Belvedere. Der Großherzog hatte uns zum Frühlingsfest in sein Schlößchen geladen. In eine Laube von Maiglöckchen und Rosen war der runde Gartensaal verwandelt; durch die weit geöffneten Türbogen lachte der blaue Himmel, auf dem blinkenden Silber und den geschliffenen Kristallen der Tafel glänzte die Sonne, die Zahl der Tischgäste überstieg nicht die der Musen, und ein heiteres Gespräch, das wie der Wiesenbach alle Ecken und Kanten meidet und selbst die Steine streichelt, die ihm im Wege liegen, flutete hin und her. Warum nur meine Gedanken zuweilen den Faden verloren, und der Märchenwald am grünen Badersee mir wie eine Fatamorgana erschien und kühler Bergwind mir die Stirn umstrich? – der Duft der Maiglöckchen war es wohl, der den Zauber hervorrief.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/488&oldid=- (Version vom 31.7.2018)