„Er ist Atheist und Sozialist,“ kam es mit harter Betonung über seine Lippen.
Ich zuckte zusammen und konnte dem Schauder nicht wehren, der mir zitternd über den Rücken lief. Aber mein Wunsch wurde nur noch stärker.
„Stellen Sie mich vor,“ bat ich dringend. Er sah mich von der Seite an: „Aber die Verantwortung tragen Sie allein!“
Wir drehten um. Ein kurzes Zeremoniell: „Fräulein von Kleve möchte dich kennen lernen, Georg, – sie ist Schriftstellerin.“
Des Professors Gesicht schien sich noch mehr zu erhellen. „Dann freue ich mich doppelt Ihrer Bekanntschaft,“ sagte er, und seine Hand umfaßte die meine mit einer kräftigen Herzlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte. „Jede arbeitende Frau ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft.“
„Auch ein Gewinn für die Kunst und die Wissenschaft?“ meinte ich zweifelnd.
„Gewiß! Sobald alle Universitäten und Akademien ihnen offen stehen, wie den Männern!“ Ich sah ihn verwundert an. Nur aus Witzblättern hatte ich bisher vom Frauenstudium erfahren, und hie und da war mir eine russische Studentin mit ausgetretenen Stiefeln, zerfranstem Rock und kurz geschorenen Haaren begegnet, die meine tiefe Abneigung gegen die Verleugnung der Weiblichkeit nur steigerte. Zögernd äußerte ich meine Ansicht. Der Professor lächelte. Die Witwe mit den angejahrten Töchtern ging gerade vorüber.
„Sind diese armen alten Mädchen, die nun schon seit Jahren hier auf den Heiratsmarkt geführt werden,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/503&oldid=- (Version vom 31.7.2018)