vielleicht würdigere Vertreter der Weiblichkeit?“ sagte er, „die russische Studentin ziehe ich ihnen jedenfalls vor; und so arm sie sein mag, – sie selbst würde keinenfalls mit ihnen tauschen mögen. Denn sie hat ihre Freiheit, ihre Arbeit und ist tausendmal reicher als jene.“ Er schwieg, aber da ich nicht antwortete – das was er sagte war mir in seiner einfachen Selbstverständlichkeit doppelt überraschend –, fuhr er nach einer Pause fort: „Stellen Sie sich eine Frau in meiner Lage vor, – wie unglücklich müßte sie sich fühlen, weil sie nicht nur von vielen Freuden des Lebens ausgeschlossen, sondern vor allem, weil sie nutzlos, weil sie überflüssig ist. Ich aber bin vollkommen glücklich!“
Der Professor lehnte sich tief in den Rollstuhl zurück, legte die Hände übereinander auf die schwarze Pelzdecke und sah mit einem Ausdruck der Verklärung über die Menschen hinweg in die gelben tanzenden Blätter, in die rosigen Abendwolken hinein. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich war keines Wortes mächtig und dankbar, daß die Eltern, die mich suchten, mich jeder Antwort überhoben.
Von nun an war ich es, die die Nachmittage nicht erwarten konnte, die, als es immer herbstlicher wurde, und kälter und trüber, oft allein den gewohnten Weg ging, um in dem stiller und stiller werdenden Garten den Mann zu suchen, dessen durchsichtige Krankenhand mich auf steile Höhen mit endlosen Fernsichten und in dunkle Tiefen voll überquellender Schätze führte. Ohne daß er eine Frage stellte, lockte der warme Strahl seiner Augen meine verborgensten Gedanken ans Tageslicht, und wo sie wirr auseinanderfielen, wie vom Sturm zerrissene
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/504&oldid=- (Version vom 31.7.2018)