Telegraphendrähte, knüpfte er sie wieder vorsichtig zusammen. Er brachte mir Bücher, Zeitungen und Zeitschriften mit und wenn ich damit beladen nach Hause kam, wurde es mir schwer, mich von ihnen zu trennen und zu meiner Arbeit zurückzukehren. Ich hatte mancherlei Versprochenes und Begonnenes zu vollenden und tat es widerwillig, nur von dem Gedanken erfüllt, mich auf eigene Füße zu stellen.
Aber der Professor verstand es, mir selbst diese Arbeit wieder wertvoll zu machen. „Wie viele große, gute und gefährlich umstürzlerische Ideen können Sie einschmuggeln, wenn Sie nur Ihren Goethe tüchtig ausnutzen,“ meinte er, „und die vielen kleinen Flämmchen, die Sie entzünden, schlagen schließlich zu einer großen Flamme zusammen.“
Daß diese Arbeit nicht die meine bleiben dürfe, – davon war er freilich auch überzeugt, doch er lachte mich aus, – mit einem hellen frohen Gelächter, das von Spott nichts weiß –, als ich sagte, für mich gebe es nichts zu tun. „Die Fülle der Aufgaben müßte Sie vielmehr erdrücken, wenn Sie nicht so stark wären, alle auf sich zu nehmen,“ versicherte er mir.
Ich vertiefte mich auf seinen Rat in die Literatur der amerikanischen und englischen Frauenbewegung. Ihre Ideen erschienen mir nur als die notwendige Konsequenz meiner eigenen. Unter der Unfreiheit hatte ich gelitten, die Unmöglichkeit, meine geistigen Fähigkeiten auszubilden und zu betätigen, hatte mich fast erdrückt. Ich las Condorcet und John Stuart Mill und lernte die Heldenkämpfe der Amerikanerinnen um die Befreiung der Sklaven kennen. „Sie alle haben ein Recht, sich den
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/505&oldid=- (Version vom 31.7.2018)