der Nation werden sollte, – darauf richteten sich alle meine Gedanken.
Ich ging täglich zum Professor. Schon lange hegte er denselben Wunsch wie ich, ohne, seiner eigenen Gebrechlichkeit wegen, an die Möglichkeit naher Erfüllung zu glauben.
„Hatte ich nicht recht,“ sagte er einmal, „wenn ich meinte, ich müsse eigentlich dem lieben Gott dankbar sein für die merkwürdige Begegnung mit Ihnen? Durch Sie wird der Lieblingstraum meines Lebens in Erfüllung gehen!“
Wir arbeiteten unseren Plan in allen Einzelheiten aus: Mitglieder der verschiedensten religiösen und politischen Richtungen sollten den ersten Aufruf zur Gründung der Ethischen Gesellschaft unterzeichnen. Ihr Zweck sollte sein, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem alle Menschen ihre Gedanken freimütig über alle brennenden Fragen der Gegenwart auszutauschen vermöchten, von dem aus gemeinsam geschaffene Gesetzesvorschläge den Regierungen unterbreitet und zu den Ereignissen des öffentlichen Lebens Stellung genommen werden sollte. Niemand dürfe um seines Glaubens oder seinen politischen Anschauungen wegen bekämpft oder ausgeschlossen werden, es sei denn, daß er dadurch gegen das Grundprinzip der Gesellschaft verstoße: das größte Glück der größten Anzahl zu fördern.
Mein Gedankengang geriet bei diesem Punkt ins Stocken. „Wenn ichs mir recht überlege,“ sagte ich nachdenklich, „kann ein echter Christ sich unserem Bunde nicht anschließen. Toleranz gegen Andersgläubige kann bei denjenigen kaum erwartet werden, die überzeugt sind,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/521&oldid=- (Version vom 31.7.2018)