daß ihr Glaube der allein selig machende sei; und das größte Glück als Ziel unseres Strebens aufstellen, ist vollends ganz und gar unchristlich.“
Glyzcinski lachte: „Sie haben einen hellen Kopf, liebe Freundin, darum lassen Sie mich ihnen noch eins verraten: Niemand, der von Herzen an einen lebendigen Gott glaubt, kann auf unsere Seite treten; oder dürfte er zugeben, daß Gott selbst sich der Moral unterordnet?! Die Religion als vager metaphysischer Glaube, als flüchtig berauschendes Genußmittel schwacher Seelen kann innerhalb unserer Reihen Anhänger haben, nicht aber die Religion als Grundlage der Sittlichkeit, – und damit wird ihr Halt und Inhalt zugleich entzogen. Der Kaiser und die Junker haben von ihrem Standpunkt aus vollkommen recht, wenn sie dem Volke die Religion erhalten und die Schule der Kirche mit Haut und Haar ausliefern möchten: nichts hindert die Verbreitung wahrer ethischer Kultur mehr als die Religion. Die Dankbarkeit für alles, was wir haben und sind, körperlich und geistig, wird in sentimentalen Gefühlen auf Gott gelenkt, statt daß sie sich in Taten auslöst für die Menschheit, der wir in Wirklichkeit alles verdanken. Aller Widerstand gegen das Böse, alle Kampfeslust gegen das Unglück wird dadurch gelähmt, daß man den Menschen lehrt, sich demütig vor Gottes Willen zu neigen, und ihnen den Glauben an die ewige Seligkeit einstößt. Und alle Tapferkeit, alle Menschenliebe, alle Kraft zur Selbstbefreiung und zur Befreiung der Menschheit aus Elend und Knechtschaft wird im Keime erstickt, wenn die Verantwortlichkeit für das Leiden auf die Gottheit abgewälzt werden kann.“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/522&oldid=- (Version vom 31.7.2018)