Des Professors Gesicht nahm jenen kindlich-strahlenden Ausdruck an, der mich immer an gotische Heiligenbilder erinnerte.
„Ich glaube daran! Sonst müßte ich mich selbst für eine Ausnahme aller Regel halten!“
Auch Egidy, dachte ich auf dem Heimweg, ist solch ein Gläubiger; bei ihm soll das Einige Christentum vollenden, was der Professor von der Ethischen Kultur erwartet.
Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei jedem Umschlagen einer Seite erwartete ich das Gräßliche zu finden, das so vielen Menschen das Recht gab, den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte mich, und wenn ich überrascht war,so nur über die Selbstverständlichkeit jeder Kritik am Bestehenden und jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im stillen vor Freude, wenn ich eigene, längst vertraute Ideen wiederfand; und wo meine Gedanken nicht Schritt halten konnten, sagte mein Gefühl ja und tausendmal ja. Gleiche Rechte für alle: Männer und Frauen; Freiheit der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle; freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens –: wie konnte irgend jemand, der auch nun über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!
Eugen Richters famose Broschüre, die ich im Sommer
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/525&oldid=- (Version vom 31.7.2018)