gelesen hatte, und die Onkel Walter in Pirgallen gratis unter die Arbeiter verteilte, fiel mir ein. Sollte der Verfasser wissentlich gelogen haben? Und war es Lüge, nichts als Lüge, was die Gegner vom Sozialismus verbreiteten? Das der Professor mir irgend etwas vorenthalten haben konnte, war doch unmöglich!
Ich besprach alles mit ihm: meine freudige Zustimmung und meine Zweifel und Bedenken. Der erfurter Parteitag war eben geschlossen worden, das neue Programm lag vor, und Glyzcinski erklärte es mir in allen seinen Einzelheiten. Ich sah, daß die vielverlästerte und mir immer lächerlich erschienene Forderung nach der Verteilung allen Besitzes in Wirklichkeit nicht vorhanden war, daß nur der Grund und Boden, der seine privaten Besitzer reich machte, ohne daß sie arbeiteten, und die Produktionsmittel der Industrie, durch die ihre Eigentümer zu Millionären wurden und ihre Arbeiter zu abhängigen Sklaven, in den Besitz der Allgemeinheit übergehen sollten. Dabei konnten wir alle nur gewinnen, – wir vielen, die wir doch auch nichts als Besitzlose waren! – Warum sträubten wir uns dann?
„Sie sehen selbst: Unwissenheit und Selbstsucht sind die Gegner der Sozialdemokratie, die Lüge ihre Waffe,“ sagte der Professor, „und wir sollten sie zu besiegen nicht imstande sein?!“
Die Zeit damals war geladen mit Elektrizität. Überall schien die alte Erde von unterirdischen Donnern erschüttert, und hie und da klaffte ein dunkelgähnender Abgrund, wo noch eben grüne Wiesen gelacht hatten. Schmutzige Geldgeschichten in preußischen Ministerhotels, Betrugsanklagen gegen Vertreter der deutschen Regierung
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/526&oldid=- (Version vom 31.7.2018)