Zeit, viel mehr Kraft erfordern würde, – falls es überhaupt möglich ist! –, als neue Werte unter neuem Namen in die Köpfe und Herzen zu pflanzen …“
Aber all unsere Auseinandersetzungen, in denen wir im Grunde mit größerer Leidenschaft um einander, als um Ideen kämpften, blieben fruchtlos. „Also – ich reite allein!“ schrieb mir Egidy in einem Augenblick, wo wir, wie erschöpft vom Kampf, mit gesenktem Degen stumm voneinander gegangen waren, „aber – den Glauben dürfen, richtiger: können Sie mir nicht rauben, daß Sie und ich im kleinsten Finger dasselbe meinen; ich habe Sie erfaßt, nur Sie mich nicht! Warum? ich werde es Ihnen einmal sagen, – nicht schreiben; ich habe ein ganz klares Bewußtsein davon …“
Glyzcinski gegenüber gab ich meinem Unmut über das Vergebliche meines Bemühens lebhaften Ausdruck. Er selbst hatte ursprünglich auf Egidy, als einen unserer künftigen Mitkämpfer, außerordentlichen Wert gelegt. Allmählich grub sich eine kleine Falte zwischen seine Brauen, wenn ich von ihm erzählte. „Sie sollten Ihre Kräfte nicht länger an eine verlorene Sache verschwenden,“ meinte er dann. Aber ich konnte mich um so weniger beruhigen, als mir ein Zusammenstoß zwischen den beiden Bewegungen unvermeidlich schien, je mehr sie an Bedeutung gewannen.
Einer der Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas war auf Glyzcinskis Veranlassung nach Berlin gekommen, seine Vorträge hatten große Aufmerksamkeit erregt und im Kreise der Intellektuellen lebhafte Debatten hervorgerufen. Ich sah, wie schmerzlich Egidy und seine Anhänger das Auftreten des Ethikers
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/530&oldid=- (Version vom 31.7.2018)