weichen: dem Wein. Als in Lisbeths von dem gedämpften Kerzenlicht bunter Lampions erhellten künstlichen Garten die Erdbeerbowle auf dem Tische stand und die Ketten und die Rheinkiesel auf Kopf und Hals und Armen der falschen Zarewna leuchteten und glänzten wie Perlen und Brillanten, verschwand nach und nach jener erste Eindruck der Fremdheit.
Wir sprachen von allem, was die Zeit bewegte: von der Kunst der Moderne, von der Frauenfrage, von der Sozialdemokratie. „Ich bin Sozialist,“ sagte Sindermann, „weil ein denkender Mensch heute nichts andres sein kann, –“ schon klopfte mir das Herz höher vor Freude – „aber ich glaube nicht, daß die Ideen des Sozialismus sich in absehbarer Zeit erfüllen werden.“ Und nun entwickelte ich die Prinzipien und die Zukunftshoffnungen der Ethischen Bewegung und führte all meine Gründe ins Feuer, um ihn zu einem der unseren zu machen. Er lächelte; in dem rötlichen Dämmer des Raums vermochte ich nicht zu unterscheiden, ob es das Lächeln des Spötters oder das tragisch-resignierte des Pessimisten war. „Wir Deutschen sind vorläufig unfähig, uns zu würdigeren inneren und äußeren Zuständen aufzuschwingen,“ meinte er dann, „und so sehr ich alle Ihre Ideen anerkenne, so wenig glaube ich, daß Sie unter den Künstlern Proselyten machen werden. Nicht viele fassen ihre Aufgabe auf wie ich –“ er schwieg und betrachtete nachdenklich seine Fingerspitzen. Dann warf er einen kurzen, erwartungsvollen Blick auf mich.
„Und Ihre Auffassung wäre?!“ frug ich gespannt.
„Der Dichter muß das Leben wiedergeben, wie es sich ihm darstellt; das vermag er nur dann, wenn sein Herz
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/559&oldid=- (Version vom 31.7.2018)