weit genug ist, um das ganze Leid der Gegenwart mit zu fühlen. Während die Dichter der Vergangenheit Tugend und Laster auf die Bühne brachten und den Zuschauer dadurch befriedigten, daß eine vergeltende Gerechtigkeit den Schluß herbeiführte, zeichnet der moderne Dichter das wahre Bild des Lebens und ruft den Zuschauern zu: so ist es, geht hin und helft! Ich will mein Publikum nicht amüsieren, ich will ihm nicht die Zeit tot schlagen helfen, ich will es aufrütteln, will es zur Erkenntnis von Wahrheiten führen, denen es im Leben aus dem Wege geht. Heißt das nicht auch ethisch handeln?“
Ich war entzückt. So hatte ich mir das Wirken des Künstlers vorgestellt! Er wurde wärmer und lebhafter.
„Glauben Sie mir,“ sagte er mit einer großen Geste, „wenn ich könnte, würde ich nur vor Arbeitern meine Stücke aufführen lassen, – die verstehen, die würdigen mich!“ Und dann erzählte er von der berliner Gesellschaft der Kunstkenner, Ästheten und Mäcene, die wahl- und kritiklos jeder neu auftauchenden Größe nachliefen. „Bewundert haben mich alle als den berühmten Mann,“ und wieder zeigte sich jenes unbestimmte tragisch-resignerte Lächeln, – ich erinnerte mich flüchtig eines Schauspielers, dem meine Altersgenossinnen in Posen um solch eines Lächelns willen zu Füßen lagen – „aber die meisten wußten nicht, ob dieses notwendige Salonrequisit ein Bildhauer oder sonst was wäre.“
Es mochte Mitternacht geworden sein, als auf sein neuestes Werk die Rede kam, das im nächsten Winter das Licht der Rampen erblicken sollte. Ich horchte um so gespannter auf, je mehr ich von seinem Inhalt erfuhr.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/560&oldid=- (Version vom 31.7.2018)