Ein Weib sollte die Heldin sein, deren Künstlernatur sie aus dem engen Zuhause einer Offiziersfamilie hinaustrieb in die Welt.
Und meine Phantasie arbeitete noch rascher, als der Dichter zu erzählen vermochte: Ich selbst war dies Weib, das sich endlich losriß, um die Heimat seines Wesens zu finden, – war nicht am Ende auch der alte Oberst, der in der Verzweiflung zur Pistole griff, – mein Vater?! Die Heimat, – das ist das Schicksal, es vernichtet uns, wenn wir die Schwächeren sind, und es ist wie die antike Tragödie, die immer Tote auf der Wahlstatt läßt.
Ich war ganz still geworden, versunken in die Gedanken, die des Gastes Werk in mir ausgelöst hatte.
Draußen dämmerte der Tag. Die Blumen im Zimmer hingen erschlafft die Köpfchen; ein feiner Zigarettenrauch zog seine Kreise um die verglimmenden Kerzen. Und plötzlich übermannte uns bleierne Müdigkeit. Sindermann erhob sich. Verwirrt sah ich auf: da war er ja wieder, vom ersten Frühlicht beleuchtet, der „bel homme“, der Mann mit dem liebevoll gepflegten Bart, den großen Händen und den runden fleischigen Fingern daran. Seltsam, wie fremd, wie störend er wirkte. War er es wirklich gewesen, der mir eben mein Schicksal gedeutet hatte?
Zwei Stunden schlief ich den unruhigen Schlaf der Erschöpfung. Das rasche Klingeln des Telegraphenboten weckte mich: „Befinden wechselnd. Freue mich unbeschreiblich auf Ihre Rückkehr. Glyzcinski.“ Ich hatte noch gerade Zeit, die Eltern schriftlich meines raschen Entschlusses wegen um Entschuldigung zu bitten. „Der Professor ist krank; Ihr wißt, sein Leben hängt
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/561&oldid=- (Version vom 31.7.2018)