Kein Wort der Liebe war meiner Mutter bisher über die Lippen gekommen. Vor der Haustür blieb sie aufatmend stehen. „Nun hast du deinen Willen durchgesetzt,“ stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
In meinem künftigen Schlafzimmer, einem großen Raum, dessen einziges Fenster auf den dunklen Hof hinaussah, zog ich mein Brautkleid an. Kranz und Schleier lagen bereit; niemand kam, mir zu helfen. Sie waren alle vorn und schmückten den Altar! Da hört’ ich eine zaghafte Stimme an der Tür: „Darf ich?“, und eine kleine Frau schlüpfte herein, verlegen und lächelnd an der großen weißen Schürze zupfend, in den roten Händen einen bunten Nelkenstrauß. Ich kannte sie flüchtig: die Frau vom Tischler nebenan war’s, dem Georg aus dem Elend geholfen hatte, und der jetzt täglich kam, um sich den „Vorwärts“ zu holen. „Ich konnt’ doch heut nicht fehlen,“ stotterte sie, „ich mußt’ doch dem gnädigen Fräulein zeigen, wie mächtig wir uns freuen, mein Karl und ich! So schön ist’s, daß der gute Herr Professor nu nich mehr so alleinich is, – so heilig schön, daß Sie seine Frau werden!“ Dabei faltete sie die Hände und sah mich aus ihren hellen runden Augen an, wie der gute Katholik ein wundertätiges Heiligenbild. Und dann nahm sie vorsichtig den Schleier und steckte ihn mir auf die Locken und legte mit ihren groben Arbeitshänden ganz leicht und zart den Kranz darauf: „Der liebe Gott segne Sie! –“
War es, weil ich aus dem Dunkel kam, oder weil helle Freudentränen mir in den Augen standen, – ich sah, als ich in Georgs Zimmer trat, nichts als Wogen goldschimmernden Glanzes. Wie Schattenbilder, die uns
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/591&oldid=- (Version vom 31.7.2018)