stand das blasse Mädchen mit den zerstochenen Fingern auf der Tribüne; sie war sehr klein, ein echtes Proletarierkind, dem die Not von je her die schwere Hand auf den Kopf gedrückt hatte, so daß es nicht wachsen konnte, und die Züge formte, so daß sie zeitlos blieben. Sie wechselte ein paar Worte mit Egidy, strich sich über den glatten, stumpfblonden Scheitel und begann mit einer Stimme zu reden, deren Ton etwas rauhes, knarrendes an sich hatte.
„Der Herr Referent sagte mir, daß es in seinen Versammlungen nicht üblich ist, sich zur Diskussion zu melden. Er hat mir aber erlaubt, ihm eine Frage zu stellen, die mir und manchen meiner Parteigenossen“ – ein paar Journalisten riefen höhnend „Aha“, reckten die Köpfe, und klemmten sich den Zwicker auf die Nase, um die Rednerin genauer ins Auge fassen zu können – „während seiner Ausführungen auf den Lippen schwebte. Was er sagte, ist für uns nichts Neues gewesen. Es gehört seit Jahrzehnten zum eisernen Bestand der Sozialdemokratie, die dafür von seiten der herrschenden Klassen unterdrückt, verfolgt und mißachtet wird,“ – ein paar Damen steckten tuschelnd die Köpfe zusammen –, „die Gleichheit vor dem Gesetz, die allgemeine Einheitsschule, die Abschaffung der stehenden Heere, – das alles sind Forderungen des Erfurter Programms. Und für die Befreiung des weiblichen Geschlechts aus politischer und sozialer Versklavung kämpft eine Partei von anderthalb Millionen deutschen Arbeitern, während die bürgerlichen Damen in ihren Wohltätigkeitskränzchen so was nicht einmal unter vier Augen zu flüstern wagen.“ – „Aber – aber!“ rief eine Frauenrechtlerin kopfschüttelnd und
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/597&oldid=- (Version vom 31.7.2018)