hob die schweren Lider wie eine gut geschulte Tragödin. Ich jedoch zuckte zusammen, als müßt’ ich mich persönlich getroffen fühlen. – „Und wenn der Herr Referent mit so viel dankenswertem Eifer für den gesetzlichen Arbeiterschutz eintritt, so hätte er – zur Aufklärung für all die Herrschaften, die in unsere Versammlungen doch nicht kommen – wohl ein Wörtchen darüber sagen können, daß wir es waren und sind, deren rastloser Arbeit, nach Fürst Bismarcks eigenem Ausspruch, das bißchen Arbeiterschutz zu verdanken ist, das wir haben. Den Herren da oben ist das schon zu viel, sie schreien nach Flinten und Kanonen gegen den inneren Feind und winseln nach Liebesgaben für ihre Taschen …“ Sie brach ab, ihre Stimme war kreischend geworden. Egidy stand ruhig mit verschränkten Armen und einer tiefen Falte auf der Stirn neben ihr.
„Und Ihre Frage, mein Fräulein?“ frug er.
„Ach so – meine Frage –“ ein verlegenes Lächeln ließ sie plötzlich ganz jung erscheinen, dann reckte sie sich, stemmte die Arme fest auf das Pult vor ihr, sah Egidy gerade ins Gesicht und sagte: „Wenn Sie dasselbe wollen, wie wir, – warum sind Sie nicht Sozialdemokrat?“
Ein spannender Moment: tausend Augenpaare bohrten sich in das blasse, erregte Gesicht Egidys. „Das hab’ ich gefürchtet –“ flüsterte Polenz neben mir.
„Ich habe den Soldatenrock ausgezogen um meiner Überzeugung willen, – darnach gibt es für mich kein Opfer mehr, das ich ihr nicht leichten Herzens bringen könnte. Ich bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei das tiefste Bedürfnis der Menschenseele, das religiöse, niederhöhnt und niedertrampelt – –“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/598&oldid=- (Version vom 31.7.2018)