Gast, und manch ein junger Theologe, voll ehrlicher Begeisterung für die neuen Aufgaben, die der christlichsoziale Kongreß den Vertretern der Kirche stellte, fand den Weg zu uns. Bertha von Suttner erschien, sobald sie in Berlin war, beseelt von jenem strahlenden Glauben an die Sache, der das Kennzeichen geborener Reformatoren ist, und über den nur engherzige Alltagsleute lächeln. Denselben heiteren Optimismus, der die ganze Atmosphäre in starke Schwingungen zu versetzen scheint, brachte Frances Willard in unseren Kreis, die tapfere Amerikanerin, die auf dem Feldzug gegen Laster und Not entdeckt hatte, daß ihrem Geschlecht zu seiner Durchführung die Waffen fehlten, und die nun mit einer Energie ohne Gleichen den Gedanken des Frauenstimmrechts von einem Ende der Welt zum anderen trug.
So verschiedenartig die Menschen waren, die über den dunkeln Hof und die finstere Treppe den Weg in unsere hellen Zimmer fanden, – zweierlei war ihnen allen gemeinsam: die Überzeugung, daß unsere Welt sich das Lebensrecht verscherzt habe, und die Kraft, die Welt der Zukunft mit der Hingabe des ganzen Lebens aufzubauen.
„Ist das nicht recht eigentlich unsere Ethische Gesellschaft?“ sagte Georg eines Tages, als unsere Gäste all ihre Reformpläne und Umsturzideen miteinander ausgetauscht hatten und im Rausch der eigenen Begeisterung bis zum späten Abend bei uns geblieben waren. „Von allen Seiten bohren sie schon den Felsen an, der unser Nordland vom Zukunftssüden trennt!“ Er strahlte wieder wie ein Kind.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/608&oldid=- (Version vom 31.7.2018)