„Ich möchte auch bohren, Georg!“ meinte ich – eine tiefe Unzufriedenheit mit mir selbst hatte mich innerhalb dieses Kreises selbständig schaffender Menschen ergriffen –, „nicht immer bloß nachschleichen, wo die anderen schon den ersten Schritt getan haben.“ Schon längst beschäftigte mich der Gedanke, daß die Frauen vor allem berufen seien, Trägerinnen der sozialen Bewegung zu werden, die notwendig zum Sozialismus führen müsse.
„Unsere politische Rechtlosigkeit, unsere wirtschaftliche Abhängigkeit, unsere soziale Unterdrückung stellt uns auch ohne unser Wissen und Wollen auf die Seite aller Entrechteten. Unsere mütterlichen Empfindungen machen uns überdies hellsichtiger für Not und Elend. Hätten wir die Frauen, – wir hätten die Welt!“ Ich lief aufgeregt im Zimmer umher – „das ist eine Aufgabe, die sich der Mühe lohnt – –“
„Und die meine Alix erfüllen kann,“ unterbrach mich Georg, mir beide Hände entgegenstreckend.
Gleich am nächsten Tage ließ ich mich in die Vortragsliste der Ethischen Gesellschaft einzeichnen. Da es immer an Rednern fehlte, wurde meine Anmeldung mit Freuden begrüßt. Und nun ging ich an die Vorbereitung. Durch amerikanische und englische Frauenzeitschriften war ich über den Stand der Bewegung im Ausland vollkommen orientiert; der „Vorwärts,“ die Arbeiterinnenzeitung, die Versammlungen des Arbeiterinnenvereins, die ich mit Martha Bartels besuchte, hatten mir ein Bild von der Lage der Proletarierinnen, ihren Wünschen und ihren Bestrebungen gegeben; nur von der deutschen Frauenbewegung wußte ich noch nicht viel.
Seit einem halben Jahrhundert kämpfte sie um die
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/609&oldid=- (Version vom 31.7.2018)