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Schulter. Erschrocken wandte ich den Kopf: Mein Vater stand vor uns. „Ich habs zu Hause nicht ausgehalten, – und nun ließ ich all deine Zuhörer Revue passieren. Wie stolz bin ich auf deinen Erfolg!“ Und er ging den ganzen langen Weg durch die Karlstraße und den nachtdunkeln Tiergarten mit uns.

Diese Nacht schlief ich nicht: die alten wachen Kinderträume umgaukelten mich. Strahlte nicht auf meiner Fahne, wie auf der Johannas von Orleans, das Bild der Mutter des Menschen? Heute hatte ich sie entfaltet, – im Sturme würde ich sie zum Siege führen!

Als mir Professor Tondern am nächsten Tage spöttisch von der „Premieren-Publikums-Begeisterung“ sprach, „an deren Feuer sich kaum ein Nachtlicht anzünden läßt“, empfand ich seine Bemerkung nur als Ausfluß seiner pessimistischen Weltanschauung. Georg bestärkte mich darin.

„Ihr Unglauben an die Menschennatur lähmt Ihre Tatkraft,“ sagte er ihm.

„Und Ihr weltfremder Idealismus wird zwar nicht Sie, wohl aber Ihre Frau in einem Meer von Enttäuschung untergehen lassen,“ antwortete er ärgerlich und fuhr sich nervös mit allen zehn Fingern durch die langen, roten Haare.

„Warum halten Sie mich allein für gefeit?“ frug Georg lächelnd.

„Weil Sie vom Frieden Ihres Zimmers aus die Welt betrachten – und Ihre Frau mit beiden Füßen zugleich mitten in den Strudel springt –“, Professor Tondern ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. „Weil Ihnen gegenüber alle bösen Triebe der lieben Nächsten sich in

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/616&oldid=- (Version vom 31.7.2018)