Geisteskräfte abhängig gemacht? … Sie können der Wehrpflicht nicht genügen, darum kommt den Frauen das Stimmrecht nicht zu, lautet das letzte Argument der in die Enge getriebenen Gegner. Ich aber frage: der Mann, der sein Leben vor dem Feinde in die Schanze schlägt, und die Frau, die mit Gefahr ihres Lebens dem Staate die Bürger gebiert – haben sie nicht die gleiche Berechtigung über das Wohl und Wehe des Vaterlands zu entscheiden? Jede dreißigste Frau stirbt an diesem ihrem natürlichen Beruf, und sie wird trotz aller Fortschritte der Wissenschaft auch dann noch in Lebensgefahr schweben, wenn der Völkermord längst der Erinnerung angehören wird …“
Ich hatte geendet – mir war, als versänke ich in einem vom Orkan gepeitschten Ozean. Es dunkelte mir vor den Augen – ich fühlte Händedrücke – sah in hundert unbekannte Gesichter, – – vor all diesen fremden Menschen hatte ich eben gesprochen?! Wie war das nur möglich gewesen?! – Meine Mutter stand auf einmal vor mir, mit heißem, erregten Gesicht – meine Schwester umarmte mich stürmisch. – An der Tür drängte sich Martha Bartels durch die Menge, – ich fühlte nur, wie sich ihre heißen Finger schmerzhaft fest um die meinen preßten. Endlich – endlich sah ich Georg! Was galten mir die anderen alle, – von ihm allein erwartete ich die Wahrheit: seine Augen waren feucht, – er beugte den Kopf über meine Hand und küßte sie.
Die Menschen hatten sich verlaufen. Fast unbemerkt traten wir in die stille, dunkle Ziegelstraße, und leise rollten die Räder des Fahrstuhls über das Pflaster. An einer Straßenecke legte sich mir eine Hand auf die
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/615&oldid=- (Version vom 31.7.2018)