trat auf mich zu, – er schwankte ein wenig – „Sie sind ja so Eine, die sich opfert – der Menschheit – der Ethik – pfui Teufel! Mit so einem Gesicht und solcher Gestalt –“ seine große Hand streckte sich, ich wich ihr erschrocken aus – „sich behaupten sollten Sie, – Glück schenken und Liebe, – das ist mehr als Traktätchen – und – und – Kinder kriegen –“
Er fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach zu Boden. Ich strebte hastig der Türe zu. Juliane Déry kam mir nach und drängte ihr glühendes Gesicht dicht an das meine.
„So bleiben Sie doch – Schönste – Beste,“ schmeichelte sie – ich fühlte ihre Hand auf meiner Hüfte. „Ist er nicht groß? – herrlich? Und jetzt wird es erst schön – komm! komm! – laß uns Freundinnen sein –“ Sie versuchte mich zu küssen. Ich schüttelte sie ab. „Hochmütige Närrin –“ knirschte sie.
„Sie – sie hat kein Herz – kein Herz – wie all die – die Tribünenweiber!“ lallte der Betrunkene, der sich halb aufgerichtet hatte.
Ich lief hinaus wie gejagt und sprang in den nächsten Wagen. Warum nur brach ich schluchzend in den Kissen zusammen, – warum?!
Leise schlich ich in die Wohnung, in mein Zimmer. Zum erstenmal verschwieg ich Georg, was ich erlebt hatte; nur von dem Abend bei Polenz erzählte ich und von den Menschen dort, die „auch nicht die unseren sind“.
Er hörte kaum zu, seine Gedanken waren bei dem Brief, den er zwischen den Fingern rollte und mir lächelnd reichte.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/642&oldid=- (Version vom 31.7.2018)