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„Erstens heißt es Komet, und zweitens hätte er doch einen Schweif,“ wies die vornehme Tochter sie zu recht. – – – – – –

Ein Schrei barst in der Stadt und lief durch die Straßen und Gäßchen, in die Haustore, durch dunkle Gänge und über krumme Treppen bis in die ärmsten Stübchen. – – Alles riß die Vorhänge zur Seite und stieß die Scheiben auf, – die Fenster waren im Nu von Köpfen erfüllt: Ah!

Da oben am Himmel in dem nächtigen Dunst eine leuchtende Scheibe, und mitten darin zeichnete sich jetzt die Silhouette eines Ungeheuers, – eines drachenartigen Geschöpfes ab.

So groß wie der Josefsplatz, pechschwarz und mit einem gräßlichen Maul. –

Ein Chamäleon, ein Chamäleon! – Scheußlich.

Ehe die Menge zur Besinnung kam, war das Phantom verschwunden und der Himmel so dunkel wie früher.

Die Menschen sahen stundenlang empor, bis sie Nasenbluten bekamen, – aber nichts zeigte sich mehr.

Als ob sich der Teufel einen Spaß gemacht hätte.

„Das apokalyptische Tier,“ meinten die Katholiken und schlugen ein Kreuz nach dem anderen.

„Nein, nein, ein Chamäleon,“ – beruhigten die Protestanten. – – –

Glöng, glöng, glöng: Ein Wagen der Rettungsgesellschaft stürmte in die Menge, die schreiend auseinanderstob, und hielt vor einem niedrigen Haustore.

„Ist wem was geschehen?“ bahnte sich der Herr Stadtarzt einen Weg durch das Menschenknäuel. Man schob gerade eine mit Tüchern bedeckte Tragbahre aus dem Hause.

„Ach Gott, Herr Doktor, die gnädige Frau ist vor Schrecken niedergekommen“, weinte das Stubenmädchen, „und es kann höchstens acht Monate alt sein, – er wisse es ganz genau, sagt der gnädige Herr.“ –

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Gustav Meyrink: Orchideen. München o. J., Seite. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Orchideen_Meyrink.djvu/016&oldid=- (Version vom 31.7.2018)