Diwan nieder, den sie nicht sah, von dem sie aber zu wissen scheint, daß er immer da gestanden. Der Jüngling ist mit ihr hereingehuscht und steht nun schweigend in dem schattenhaften Raume, dessen eigentliche Weite sich nur ahnen, nicht ermessen läßt.
Und dann taucht allmählich ein heller Fleck aus dem Dunkel. Eine Spukerscheinung, ein umrißloser Schemen ist es. Doch es wächst empor und formt sich. Dehnt sich zu hoher göttergleicher Gestalt. Und ist plötzlich verdoppelt, verzehnfacht vorhanden, von allen Seiten in blassem Aufleuchten aus dämmernden Tiefen wiederholt. Von überall zugleich drängt sich das regungslose schneeige Wesen den Augen der Reisenden auf. Atemberaubende Angst erfaßt sie. Sie will es nicht sehen müssen – und kann sich doch nicht vor ihm retten. Hundert weiße Gegenwarten verfolgen sie in dem dunkeln Raum, verfolgen sie mit dem frech höhnenden Grinsen siegesbewußter Feinde.
Sie vermag es nicht mehr zu ertragen. Stöhnend winkt sie dem Knaben, daß er ein Fenster öffne. Und da, vor dem hereinflutenden Sonnenlicht, versinkt alsobald der sinnverwirrende Zauber: die mild-weiße, marmorne Nachbildung einer berühmten Statue des Altertums, durch gegenüberhängende Spiegel in fortlaufender Wiederholung erscheinend, ist alles, was davon bleibt.
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)