Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/124

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Personen heimlich in den strafbarsten Verhältnissen leben, über welche die Gesellschaft geflissentlich die Augen zudrückt, bis sie von selbst gleich einem falschen Götzen von ihrem morschen Piedestale fallen, wie Lady Georgiana N.




Funfzehntes Kapitel.




Die Geradheit meines Charakters ersparte mir ein unschlüssiges Schwanken zwischen Recht und Unrecht, ich war schnell entschlossen, die Stelle aufzugeben und eine andere zu suchen. Aber welche? Ein Placement bei einem Wittwer verbot bei meinem Alter die öffentliche Meinung; erwachsene Söhne im Hause bildeten ganz besondere Schreckmittel, vor Ehemännern war ich vielseitig gewarnt worden, und vor den Wittwen hatte mir Frau H. Angst und Schrecken eingejagt. Ich war in einer unaussprechlichen Perplexität und hätte gern meine Profession gegen die einer Putzmacherin oder Köchin vertauscht, wenn es nur möglich gewesen wäre, aus meinem Gleise herauszutreten.

Am folgenden Morgen, gerade als ich im Begriffe war, zu Miß M. zu gehen, kam Herr v. T. und forderte mich zu einem Spaziergange in Kensington-Garten auf, weil er Wichtiges mit mir zu sprechen habe. Ich willigte ein und nahm den kleinen Albert, Fräulein Ch.’s Pflegekind, mit mir, welcher seinen Reifen treibend vor uns her lief.

Es war zu Anfange des Monats März, der Frühling hatte sich zeitiger als gewöhnlich eingestellt, alle Bäume waren schon ausgeschlagen, und die Sonne schien so mild und freundlich darein, daß sich das Herz unwillkürlich dem Leben und der Poesie erschloß. Als wir in einen abgelegenen Theil jener herrlichen Anlagen kamen, ergriff Herr v. T. meine Hand, seufzte mit dem Ausdrucke tiefer Traurigkeit und sagte: „Warum mußte das Schicksal die Kluft der Jahre zwischen uns werfen und mir dann ein Glück zeigen, zu dessen Genusse mir die Natur das Recht versagte?“