Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/15

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für die Verdienste ihres Vaters als Regiments-Arzt der **schen Armee[WS 1] noch eine kleine Pension bezog. Mein ältester Bruder[WS 2] war damals auf der Universität Leipzig, der jüngere lernte das Tischlergewerbe, meine älteste Schwester arbeitete in einer größeren Modehandlung und die jüngste lebte noch bei den Großeltern.

Mein Herz klopfte dem Wiedersehen zärtlich entgegen, mein Entschluß war der eine und einzige, meiner Familie zur Zierde zu werden. Meine Tante empfing mich und meinen Vater sehr zärtlich; einige Stunden vergingen unter Herzensergießungen, wobei mir meine Verwandte als die strenge Erzieherin erschien, als welche sie sich schon gleich nach meines Vaters Abreise erwies. Meine Tante hieß mich neben sich an den Nähtisch setzen, gab mir ein Strickzeug in die Hand und sprach zu meinem Schrecken: „Liebe Marie, Du bist schon groß genug, um Deine Stellung zu begreifen, und damit Du Dir keine Illusionen machst, will ich sie Dir offen und wahr schildern. Du weißt, daß Dein Vater durch Führung eines Dorfgeschäftes[WS 3] nicht soviel gewinnt, um Dich für einen höheren Beruf zu erziehen, da er außer Dir noch vier Kinder hat; ich habe daher Deine Ausbildung übernommen und hoffe, daß Du mir nie zur Reue Anlaß geben wirst. Außer meiner kleinen Pension habe ich nichts als den Erwerb meiner Hände; Du wirst also bei mir lernen, durch Fleiß und Mäßigkeit zufrieden zu sein und hiermit den Grund zu Deinem künftigen Glücke legen. Zunächst übertrage ich Dir die Sorge für unsere kleine Wirthschaft. Von früh acht bis Mittags zwölf Uhr besuchst Du die Schule, die Nachmittagsstunden sind zu weiblichen Arbeiten und Erlernung der französischen Sprache bestimmt. Du wirst Dich freilich sehr zusammennehmen müssen, denn ich bin eine strenge Meisterin und theile beim ersten Versehen Ohrfeigen aus, um die Wiederholung desselben zu verhüten.“

Ich erschrak heftig über diese Einleitung, denn bis jetzt waren Pflicht und Neigung mir gleichbedeutend gewesen. Nach den Schulstunden hatte ich stets die Zeit zwischen Vergnügungsspielen und Lesen vertheilt; jetzt aber stand nur Arbeit, Entbehrung und Zucht in Aussicht. Jedoch versprach ich, den Wünschen meiner Tante in aller Art nachzukommen.

Wir führten ein sehr regelmäßiges Leben. Um sechs Uhr Morgens standen wir auf, bereiteten das Frühstück, dann kleidete mich die Tante sorgfältigst an, wir genossen den Kaffee und ich ging in die Schule. Nachmittags wurde gestickt oder genäht, auch mußte ich Filet zum Verkauf

Anmerkungen (Wikisource)

  1. sächsischen Armee, bey Sr. königl. Hoheit des Hr. Herzog Carl von Curland u. anitz Prinz Clemens, Dragonerregiment, die Pension betrug 2 Taler monatlich
  2. Heinrich Ferdinand Steinmann
  3. in Kreischa