Heinrich Ferdinand Steinmann: Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland | |
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Ich meinte, unrichtig verstanden zu haben, und fragte daher: „Wer ist krank?“
„Frau v. T., die Gemahlin des Herrn v. T.,“ sagte die Person trocken.
„Sie meinen seine Wirthschafterin,“ entgegnete ich bebend.
„Er hat keine Wirtschafterin, es ist seine Gemahlin,“ lautete die Antwort.
In demselben Augenblicke trat v. T. aus einer Nebenthür und schien bei meinem Anblicke wie vom Blitze betäubt; aber auch ich stand starr und betäubt ihm gegenüber, einer Marmorsäule ähnlicher als einem lebendigen Wesen, bis endlich das Wort Betrüger meinen zitternden Lippen entfuhr.
„Sie stirbt!“ flehte er bleich und entstellt, aber schon hatte ich ihm den Rücken gekehrt und ging auf meine Begleiterin gestützt dem Wagen zu, indem ich befahl, nach dem Hotel zurück zu fahren, denn ich fühlte mich ernstlich erkrankt. In Olumiares fuhren wir an einer Apotheke vorüber; hier ließ meine Begleiterin halten und verlangte Tropfen für mich. Der Apotheker kam an den Wagen, bat mich auszusteigen, wobei er mir behüflich war, und gab mir etwas Krampfstillendes, während Maria mir die Schläfe mit Cölnischem Wasser rieb. Ich hatte mich eben ein wenig erholt, als ein Herr eintrat, den der Apotheker sogleich fragte: „Nun, wie geht es Frau v. T.?“
„Es kann höchstens noch einige Tage dauern, denn ihre Schmerzen sind groß.“
„Aber seit wie lange sehen Sie schon ihrem Tode täglich entgegen?“ versetzte der Apotheker.
„Diese Krankheit ist sehr täuschend, je gesunder der Körper übrigens ist, desto länger quält sich der Mensch, wie es eben hier der Fall ist.“
Ich hatte, frappirt durch den wunderlichen Zufall, dem Gespräche aufmerksam zugehört und fragte nun den Arzt, ob er die Dame, von der er eben gesprochen, näher kenne?"
„Was war, wenn ich fragen darf, diese Dame vor ihrer Heirath?“
„Ein sehr schönes und armes Mädchen, das Herr v. T. aus schwärmerischer Liebe freiete, und zwar im Geheimen, aus Furcht vor seiner Familie, von welcher er alles zu hoffen und zu fürchten hatte, nachdem er mit seiner ersten Gemalin, einer vornehmen und reichen Dame, sehr unglücklich, zuletzt getrennt gelebt hatte, bis zu ihrem Tode. Mit der
Heinrich Ferdinand Steinmann: Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland. Otto Janke, Berlin 1861, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Denkw%C3%BCrdigkeiten_einer_deutschen_Erzieherin_in_Belgien,_England,_Spanien,_Portugal,_Polen_und_Deutschland.pdf/174&oldid=- (Version vom 23.1.2023)