Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

entsetzte mich, ich warf mich in die Kleider, aber ehe ich mit meinem Anzuge fertig war, sah ich den bepackten Reisewagen mit der ganzen Familie die Straße dahin rollen. Das war ein so heftiger Schlag für mich, daß ich die Hände weinend rang. Da war es, als ob eine Stimme in mir sprach: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!“ ich sank auf meine Kniee und betete inbrünstig, und auch diesmal fühlte mein junges Herz, daß derjenige, welcher beten kann, noch nicht ganz unglücklich ist. Ich suchte jetzt vergebens nach einem menschlichen Wesen im Hause, sogar die Thüre war verschlossen; die englischen Barbaren hatten mich, dem Tode kaum entronnen, in grenzenloser Hilflosigkeit zurückgelassen. Ich ging in den Speisesaal, welcher sich im erhöheten Erdgeschoß befand, und trat an das Fenster, während ich dachte, daß Karl meine einzige Rettung sei, aber sicher Brüssel verlassen habe. Obschon ich Tausende von Menschen den Boulevard entlang gehen sah, fühlte ich mich doch in schrecklicher Verlegenheit. Wer beschreibt daher mein Entzücken, als ich unverhofft meinen einzigen Freund, den jungen Maler, einherschreiten sah? Ich öffnete das Fenster und reichte ihm die Hand hinaus, die er innig drückte, worauf er sich mit unendlicher Besorgniß nach meiner Gesundheit und Lage erkundigte. Er erzählte mir, daß er zwei Mal an mich geschrieben habe, dann fragte er mit brüderlicher Sorgfalt, ob ich Lebensmittel im Hause hätte, und als ich es verneinte, entfernte er sich mit dem Versprechen, bald zurückzukehren. Es dauerte auch kaum eine halbe Stunde, so erschien er mit einem Knaben, der in einem Körbchen eine Menge Leckereien trug, als Gelées, Eingelegtes, Früchte, Austern, Wein und Milchbrod. Karls Auge strahlte vor Freude beim Anblicke der meinigen, und indem er mir die Lebensmittel vermöge seiner langen Gestalt hinaufreichte, legte er noch ein prachtvoll gebundenes Buch obenauf. Es war Le mérite des Femmes von Legouvé, mit schönen Kupfern verziert. Ich schlief nach Karls Entfernung bald ein und weiß nicht, wie lange ich geschlafen hätte, wär’ ich nicht durch einen Schrei geweckt worden. Ich fuhr erschrocken auf und sah die Hauswirthin eben so erschrocken vor mir stehen; sie hatte nicht gewußt, daß noch ein Mensch im Hause sei und mich auf den ersten Blick für todt gehalten. Sie war ganz empört über das Verfahren der G’s. und versprach, sich für mich zu verwenden, erlaubte mir auch, in dem Hause zu bleiben, bis es wieder vermiethet werden würde.