Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/22

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ich ging noch denselben Tag zu Madame D., die mich herzlich bemitleidete.

„Verlassen Sie, rieth sie mir, diese elende Laufbahn! Sie sind jung, hübsch, musikalisch gebildet, haben eine schöne Stimme und müssen Glück am Theater machen. Ich will mit meinem Vetter, welcher Regisseur des Hoftheaters ist, sprechen und bin überzeugt, daß Sie engagirt werden. In diesem Falle kommen Sie zu mir, dann sind Sie gegen die Welt und das Alleinstehen in derselben, wie auch gegen die Einsamkeit des Herzens geschützt, und für alle diese Vortheile sollen Sie mir eine sehr mäßige Summe zahlen. Wenn Sie Talent haben, können Sie es beim Theater zu etwas bringen, denn Sie haben ein ganzes Publikum zum Richter, welches die Vorzüge des Künstlers entzückt, während nicht eine Herrin unter hunderten eine Untergebene, durch die sie verdunkelt wird, neben sich duldet, viel weniger anerkennt.“

„Ich fürchte, Madame, daß Sie Recht haben, erwiderte ich, aber mein Vater hat einen entschiedenen Widerwillen gegen das Theater und schrieb mir erst unlängst mit tiefem Kummer, daß meine ältere Schwester zur Bühne gegangen sei.“

„Dies ist ein Vorurtheil, welches von einem Vater, der seinen Töchtern keine unabhängige Stellung zu verschaffen vermag, um so ungerechter ist. Wahrscheinlich wird er es dadurch rechtfertigen wollen, daß beim Theater ein Mädchen vielen Versuchungen ausgesetzt ist und daß sich viele leichtsinnige Menschen dieser Laufbahn widmen. Aber sagen Sie einmal: wo wäre ein talentvolles reizendes Weib, welches allein in der Welt steht, keinen Gefahren ausgesetzt? Und wenn Ihre Tugend weiß wie die Lilie und rein wie der Schnee und Sie selbst ein Engel wären, so würde Sie doch die Versuchung in tausend Gestalten suchen und die Verleumdung ihr Gift auf Sie spritzen. Und was den Leichtsinn betrifft, so ist ein Leichtsinniger nie ein Bösewicht, und keine Klasse der Gesellschaft hat so wenig Verbrecher erzeugt, als die Klasse der Schauspieler, während es eine erwiesene Thatsache ist, daß es in dem Stande, welcher die größte Frömmigkeit zu besitzen vorgiebt und die stärksten Ansprüche auf Verehrung macht, die schlechtesten Menschen giebt. Als freie Künstlerin können Sie den Nachstellungen ausweichen oder den Versucher in die Schranken der Bescheidenheit zurückweisen; was können Sie aber thun, wenn ein Prinzipal oder ein erwachsener Sohn des Hauses, in welchem Sie Gouvernante sind, sein Auge auf