Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/292

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Jetzt begriff ich, warum sie sich in ihrem Zimmer hielt. Ich bedauerte diese unglückliche Frau unendlich und dachte: Ueber mich sollst Du nicht Ach und Weh schreien.

Ich beobachtete von jetzt an ein höchst ernstes und kaltes Betragen gegen Herrn M., worüber er sich etwas verletzt zeigte und über lange Weile klagte. Eines Tages sagte er: „Ich muß nur meinen Freund D. einladen, vielleicht gefällt der Ihnen!“

Denselben Tag reiste er nach Edinburg und Tags darauf kam er wieder mit dem genannten Herrn und stellte mir ihn vor. Das Aeußere desselben contrastirte seltsam mit dem M.’s; klein, schlecht gebaut, mit einer gemeinen Physiognomie, der ein Paar kleine verschmitzte Augen etwas Pfiffiges, aufgeworfene Lippen etwas Dummes verliehen, war er gewiß nicht geeignet, mit seinem Freunde zu rivalisiren, zumal er zwanzig Jahre älter war, als jener. D. war einer von jenen alten Wüstlingen, welche sich aller Schonung und Rücksicht gegen Frauen überhoben glauben, die ihnen nicht durch ihre Stellung imponiren. Sogleich bei Tische fing er an, von seinen Eroberungen berühmter käuflicher Schönheiten, ihren Allüren und Bonmots zu erzählen, worauf Herr M. mit dem lebhaftesten Interesse und Wohlgefallen einging, so daß die Unterhaltung trotz der Anwesenheit der Kinder bald den empörendsten Grad von Obscönität erreichte. Da ich hierbei eine stumme Rolle spielte, so warf endlich D. mit beleidigenden Sticheleien auf Damen um sich, „welche sich unschuldig stellten, um den Appetit der Männer zu reizen,“ und M. sprach seine Abneigung gegen die „Prüden“ und seine Vorliebe für Frauen, mit denen er seine Gefühle austauschen könne, sehr entschieden aus. Ich war froh, als das Mahl vorüber war, und ging mit den Kindern in den Salon, um Frau M.’s Bild zu betrachten, dessen Schönheit und Grazie mich wunderbar gerührt hatten. „Gewiß ist Deine Seele so schön wie Dein Körper, armes Weib, dachte ich, indem sich meiner Brust ein tiefer Seufzer entwand, gewiß verzehrst Du Dich in Gram über die Lasterhaftigkeit Deines Gatten, aber fürchte nichts von mir, ich bin unfähig, das Vertrauen, das Du mir schenktest, zu mißbrauchen.“

Ein Bedienter störte mich in meinen traurigen Betrachtungen mit der Einladung, zu Frau M. in die Bibliothek zu kommen, und öffnete die Thüre, um mich eintreten zu lassen. Ich traute meinen Augen nicht und hielt mich für mystifizirt, denn eine alte Dame mit einem runzeligen