Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/294

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„Ich sage nicht das Gegentheil, aber ich bin fest entschlossen, streng sittlich zu bleiben wie bis jetzt.“

„Aber die bösen Zungen behaupten das Gegentheil von Ihnen!“

„Wer kann für böse Zungen!“

„Glauben Sie nicht, die Welt zu versöhnen, und wenn Sie wie einige Heilige lebten, sondern genießen Sie ihr Leben, Sie haben es für denselben Preis.“

„Wenn es mir um die Meinung der Welt zu thun wäre, so hätte ich mir ihre Gunst längst durch Niederträchtigkeit erwerben können, denn sie urtheilt nur nach dem Aeußeren; mein Maßstab von Integrität ist ein anderer als der ihre.“

„Aber bedenken Sie, wie glücklich Sie werden können! Hier vermögen Sie wie eine Fürstin zu leben, je verbindlicher Sie gegen Herrn M. sind, desto mehr wird man Sie honoriren, denn in dieser Nachbarschaft ist die Galanterie der Damen ein Verdienst. Die honorable Frau R. und die vornehme Frau B. in der Nähe, wie eine Menge andere Damen haben ihre erklärten und geheimen Liebhaber, und wer sich hier appart stellt, der kommt nicht fort.“

Ich fühlte mich durch diese schamlose Zumuthung im höchsten Grade widrig berührt, diese freche Verletzung jedes sittlichen Gefühles war mir neu und ich war außer mir, daß mich das Schicksal in diesen beispiellosen Kloak von Unsittlichkeit geschleudert hatte. Ich kannte Niemanden, den ich achtete, als mich selbst, und verachtete diejenigen, die mich zur Sclavin ihrer Sinnlichkeit machen wollten. Gleichwohl wußte ich aus mehrfacher Erfahrung, daß nichts schrecklicher ist als ein entlarvter Mensch, auch wenn er sich selbst entlarvte; was mußte ich von dieser Familie erwarten, wenn ich standhaft blieb! Ich beschloß deshalb, mit der größten Vorsicht und Schonung zu verfahren, und schwieg vor der Hand.

Die Herren waren indessen stehen geblieben und warteten auf uns. Wir befanden uns vor einem uralten viereckigen Thurme, und Herr M. bezeichnete denselben als die Stammburg seiner Familie, in welcher der geächtete M. seinem Könige Trotz geboten hatte. Herr M. besaß einen großen Ahnenstolz, aber nie sah ich Jemanden, der ihn mit mehr Liebenswürdigkeit und Grazie behauptet hätte als er. Er machte häufige Bemerkungen über seinen prachtvollen Körperbau und schrieb diesen seiner edeln Abkunft zu; da sich aber in der Art dies zu thun, der