Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/30

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Drittes Kapitel.




Ich eilte nach Hause, packte meinen Koffer, schrieb an meinen Vater, und während ich so emsig beschäftigt war, brachte ein Mann einen Brief mit meiner Adresse, versicherte, den Schreiber nicht zu kennen und entfernte sich. Den Brief öffnend, fand ich eine Summe in Papieren mit der Aufschrift: A la pieté filiale als ganzen Inhalt. Ich vermuthete in Karl den Absender, allein bei seiner Ankunft versicherte er, daß er von nichts wisse, er erblicke aber bei der Außerordentlichkeit meines Schicksals darin gar nichts Auffallendes, vielmehr würde er sich wundern, wenn mir einmal ein Tag in gewöhnlichem Geleise verstriche. Es lag etwas außerordentlich Feierliches in Karls edeln bleichen Zügen, in seinen Augen standen Thränen. Es war etwas Unaussprechliches in unserem idealen Verhältniß, das[WS 1] wir nie zu erörtern versucht hatten; es lag wie ein stummes Räthsel vor uns, auch jetzt noch war der Oedipus nicht vorhanden, der es lösen konnte. Karl steckte mir einen Ring mit den Worten an den Finger: „Er erinnere Sie an die reinste Liebe, die je ein Jüngling für das Ideal seines Herzens empfand.“ Hierauf entfernte er sich rasch, um mich am andern Morgen zur Post zu begleiten. Ich fuhr mit Extrapost in einem Wagen allein; Karl stand in tiefstem Ernste neben mir, als ich einstieg. Da brach ein Thränenstrom aus seinen Augen, er drückte mich zum ersten Mal in seine Arme, hob mich halb bewußtlos in den Wagen; ich sank vernichtet auf den Rücksitz in lautes Schluchzen ausbrechend. Wir haben uns niemals wiedergesehen und zu spät erkannt, was wir uns waren. Karls Briefe blieben plötzlich aus, ich glaubte ihn seinem Uebel erlegen. Er war der hochherzigste Mensch, den ich auf meinem Lebenswege traf; – es wird die Periode seines Umganges zu dem schönsten Inhalte meines Daseins gehören und der Gedanke mein Stolz bleiben, von diesem herrlichen Jüngling geliebt worden zu sein.

Meine poetischen Phantasieen wurden zwischen Gent und Ostende, der letzten Station, auf eine prosaisch unerquickliche Weise unterbrochen, oder vielmehr zerbrochen, denn der Wagen brach zusammen und fiel vollständig um, so daß ich wie durch ein Wunder der Vorsehung unbeschädigt blieb. So mußte ich ein paar Stunden ganz allein, mitten in

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: daß