Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/31

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der Nacht auf der Heerstraße neben der zermalmten Postschnecke auf und ab gehen, um mich zu erwärmen, denn hineinzukriechen war unmöglich. Der Gedanke an die Möglichkeit, beraubt zu werden, die Furcht vor persönlichem Schaden quälten mich gleichmäßig und mehr als einmal lauschte ich mit Todesangst den Fußtritten einiger Wanderer und betete inbrünstig um Errettung aus dieser Gefahr. Endlich, gerade als mehrere Männer mich anredeten, hörte ich das Knallen einer Peitsche und das Rollen eines Wagens. Bald nachher rollte ich in einer neuen Postchaise dahin, der Ermattung erliegend. Ich mochte wohl ein paar Stunden geschlafen haben, als ich erwachte und zu meiner Freude von der aufgehenden Sonne begrüßt wurde. Weit bog ich mich aus dem Wagen, um das schöne Naturschauspiel recht zu genießen, während sich mein Geist in Betrachtungen erging über die poetischen Bezeichnungen des Psalmisten, der die Sonne mit einem Bräutigam vergleicht, der seiner Braut entgegengeht, dann mit einem Helden, der seine Bahn läuft. Jetzt gingen alle zahllosen Wölkchen, gekräuseltem Silber gleichend, plötzlich in den prachtvollsten Purpur über, und ich dachte unwillkürlich an die edle Poesie der Griechen, welche die Morgenröthe einer Jungfrau vergleicht, die das Thor des Himmels mit rosigen Fingern öffnet. Während ich in diesem Genusse schwelgte, bot sich meinen Blicken links schon ein neues Schauspiel von unendlicher Erhabenheit: das Meer wogte in einiger Entfernung wie eine ungeheure Kristallkugel und schillerte all die Pracht des Himmels in tausend und tausend Lichtern und Flammen zurück. Das Meer besitzt allein die Eigenschaft unter allen Werken der Natur, der Seele eine Ahnung der Allmacht und Ewigkeit zu geben, oder vielmehr diese zwei höchsten und letzten Begriffe zu verbildlichen. Hier schweigen plötzlich alle Gefühle, auch die stürmischsten, vor dem Bilde des Göttlichen, und es wird uns wie in einem vorüberzischenden Blitze deutlich, daß unser Geist ein Funken des Weltgeistes ist und sich sehnet, in diesen zurückzukehren.

In dieser gehobenen Stimmung erreichte ich Ostende und das Hôtel, das unser Einigungspunkt war. Die Geschwister H. empfingen mich mit sichtbarer Freude, denn beide hatten gefürchtet, daß ich gar nicht kommen würde, weil ihnen Herr R… Karls Aeußerungen mitgetheilt hatte. Herr H., der doch jedenfalls mein bevorstehendes Loos voraus kannte, hatte die englische Kühnheit, mit bitterer Ironie zu bemerken: