Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/32

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daß das Vertrauen in Betreff meiner Lage wohl auf größere Hindernisse gestoßen sei, als dies in der ihrigen der Fall sein könne.

„Ich bin zwar noch sehr jung, antwortete ich ruhig, aber ich habe dennoch schon in Erfahrung gebracht, daß man in jeder Lage gut und schlecht sein kann, und daß nicht diese, sondern unser Charakter unsere Handlungsweise bestimmt.“

Unsere Ueberfahrt war eine sehr stürmische. In Dover blieben wir zwei Tage, die zu meinen glücklichsten in England gehören; den Weg nach London legten wir mit Eilpost zurück. Dies bot mir Gelegenheit, die herrliche Gegend zu bewundern: überall begegneten dem Auge geschmackvolle Villen mit reizenden Gärten, malerische Dörfer mit idyllischen Hütten, an welchen sich Geländer mit Monatsrosen emporzogen und sich über dem vorspringenden Portale durchschlangen. Alles trägt hier einen weit romantischeren Charakter als bei uns, wo die arbeitende Klasse sich meist noch auf den Besitz des Nöthigen beschränkt.

Ich war verwundert, in Frau H. eine noch sehr schöne Dame zu finden, welche fast jünger schien als ihre Tochter, die durch Kränklichkeit vor der Zeit verblüht war. Aber schon der erste Eindruck, den sie auf mich machte, hätte mir mein Loos weissagen können, denn sie empfing mich kalt und stolz. Man wies mir ein kleines Zimmerchen nach dem Hofe, wie einer Magd, an, von wo ich die dampfenden Schüsseln vorübertragen sah, die man bald nach unserer Ankunft der Familie servirte, während man mir etwas Thee und Butterbrot vorsetzte, ungeachtet man mir keinen Mittag auf der Reise angeboten hatte. Dies ließ mich einen ziemlich tiefen Blick in den Charakter meiner neuen Gebieterin thun, und ich dachte mit klopfendem Herzen an die Warnungen meines jungen Freundes.

Am anderen Morgen sagte mir Fräulein H., nachdem ich ein ähnliches Frühstück genossen, daß man ausfahre, um Einkäufe zu machen, und mir freistehe, mitzufahren, was ich dankbar annahm. Welches Erstaunen, welche Bewunderung bemächtigte sich meiner, als ich durch die breiten, regelmäßigen Straßen fuhr und die edeln Paläste, Plätze, Monumente, Obelisken, Statuen, Kirchen und andere architektonische Wunder erblickte, welche hier dem Auge überall begegnen. Diese fabelhafte Großartigkeit, die Erhabenheit der Ideen und die Ausführung derselben, welche sich überall bekundet, erfüllte mich mit einer tiefen Ehrfurcht. Gewiß, es ist ein großes, edles Volk, dachte ich, indem ich mich meinen