Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/56

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belustigend, Madame N. aber war aufgebracht darüber, daß ihr das Geschick den Bissen vor dem Munde weggenommen hatte.

Da mir die Lady es unmöglich machte, das Haus zu verlassen, so dachte ich, als eines Tages die ganze Familie ausgefahren war und auch Madame N. dem Spatzieren oblag, eben darüber nach, wie ich mich aus meiner verzweifelten Lage befreien könne. Da hörte ich einen Wagen vorfahren. Ich ging an’s Fenster und sah, daß der dazu gehörige Lakay lange parlamentirte, bis endlich eine Dame ausstieg und in das Haus ging. Auf einmal hörte ich deutlich die Worte: „Führen Sie mich augenblicklich zu ihr, sonst lasse ich die Polizei holen!“ – Ich wollte die Thür öffnen, fand sie aber zu meiner Verwunderung verschlossen; in demselben Augenblick hörte ich Fußtritte näher kommen und gleich darauf öffnete der Bediente die Thür, durch die eine starke Dame in den Funfzigen mit den Worten eintrat: „Mein Gott, ist es möglich, daß man so gottlos sein kann! ich hätte es nimmermehr geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte!“ – Es war Miß E., die mir erzählte, daß sie auf Miß Ch. Bericht vorgefahren sei, daß der Diener mich erst verleugnet, dann ihr den Eintritt verweigert habe. Sie nahm warmen Antheil an meinem Schicksale und fragte mich, ob ich mir getraue, die Erziehung ihrer beiden Töchter im Alter von vierzehn und zehn Jahren zu übernehmen, gleichzeitig aber auch den Unterricht ihrer beiden Söhne von dreizehn und eilf Jahren, welche die Realschule in St. besuchten, in den neueren Sprachen zu leiten. – Ich fühlte wohl, daß dies keine leichte Aufgabe sei, jedoch ich hatte keine Wahl und erwiederte daher, ich sei dazu bereit, sofern Mistreß E. mir zutraue, dem vorliegenden Bedürfnisse genügen zu können. Sie prüfte mich nun in der deutschen, französischen und englischen Sprache, welche sie zu meinem Erstaunen alle sehr fertig sprach, und endlich auch in den Wissenschaften, ganz wie ein bestallter Examinator, worauf sie sich befriedigt erklärte, zugleich aber auch ihre Bedenken äußerte, ob ich die nöthige moralische und physische Kraft besitzen würde, um ihre Kinder leiten zu können? Daraus schloß ich, daß diese nicht die lenksamsten sein dürften und entgegnete, ich müsse alles Uebrige ihrer Beurtheilung anheimgeben. Nachdem wir uns über Alles geeinigt, beschied sie mich auf den nächsten Abend zu sich, um das Weitere bezüglich der Reise zu ordnen. Bald nachher kam Madame N. mit der Nachricht an, daß sie soeben eine andere Stelle erhalten