Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/74

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hatten meinem Herzen wohlgethan, und wie hätte ich unempfindlich dagegen sein können? Ich erinnerte mich, daß, wenn sich unsere Hände beim Umwenden der Notenblätter berührten oder beim Gruße begegneten, mir das Blut in’s Gesicht stieg und dann sein Blick stets prüfend auf mir weilte. Ich konnte nicht leugnen: wenn der junge schöne Mann sang oder spielte, hing mein Auge nur zu gern an ihm; aber auch das seine folgte allen meinen Bewegungen, und wenn sich unsere Blicke begegneten, so war es, als würden sie durch einen elektrischen Schlag verschmolzen.

Seine Mutter und Schwestern, weit entfernt, uns argwöhnisch zu belauschen oder uns trennen zu wollen, schienen sich über unser gegenseitiges Wohlwollen zu freuen und lobten ihn fortwährend gegen mich und mich gegen ihn. Mistreß S. hatte auch großmüthig mehrmals geäußert, daß sie das ärmste Mädchen mit Freuden zur Schwiegertochter annehmen würde, wenn sie tugendhaft und gebildet wäre. So viel war jedoch klar, meinte er nichts Ernstes mit dem allen, so scherzte er nur mit meinen Gefühlen in kalt berechnender Selbstsucht, und es blieb mir nichts übrig, als mein Herz zu beherrschen. Und schon diese Aufklärung über meinen Gemüthszustand war ein wesentlicher Gewinn, den ich aus der Mittheilung der Frau W. gezogen hatte.

Als ich Sir John am nächsten Tage sah, kam er mir mit derselben Herzlichkeit entgegen wie gewöhnlich, indem er mir seine Hand reichte; allein ich war schon viel kälter, denn ich hatte in der Schule meines harten Lebens schon früh die Kunst der Selbstbeherrschung gelernt. John mochte die Veränderung an mir gleich merken, denn er sah mich eine Zeitlang prüfend an und entfernte sich ungewöhnlich früh. – Ich war bis jetzt oft mit meinen Zöglingen spazieren geritten, auch heute luden sie mich dazu ein, allein ich lehnte es ab und[WS 1] machte einen Spaziergang nach Tansor. Frau W. war mit Katharina und Auguste im Garten beschäftigt. Mein Erstes war, mich nach Anna zu erkundigen, worauf ich erfuhr, daß man damit umging, sie wieder nach Frankreich zu schicken. „Sehen Sie, sagte die Mutter, dort steht sie schon am Fenster und wartet auf den, der sie um ihr ganzes Lebensglück gebracht hat und den sie noch unendlich liebt.“

In der That stand sie oben am Fenster und blickte auf die Straße herunter, die man von hier bis Oundel überblicken kann.

„Da kommt er!“ sagte jetzt Mistreß W., indem sie an den Zaun

Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: unst