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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

muß, daß er ein Verworfener, ein Ausgestoßener der menschlichen Gesellschaft ist …! Mitleid, warmes Mitleid müssen wir überwinden, wenn einer von uns, wie ich heute, vor der Entscheidung steht, wenn man wie Gott Leben und Tod geben kann mit einem einzigen Wort! – Gefühllos?! … O nein, Herr Sanitätsrat, da irren Sie sich, da irrt die Menschheit sich in uns! – Aber wir sind es gewöhnt, wir, die wir die Gerechtigkeit auf Erden unterstützen, verkannt, vielleicht verachtet zu werden!“

Friedrichs antwortete nicht; aber als er jetzt Werres die Hand über den Tisch hinreichte, leuchtete in seinen Augen ein warmer Strahl.

– Schweigend saßen die beiden Herren sich nun gegenüber und jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen. Schließlich begann der Sanitätsrat zögernd: „Lieber Herr Doktor – Sie wollten mir doch erklären, was nun heute abend geschehen wird?“ – Werres schaute schon wieder gleichmütig vor sich hin. Aber in seinem Gesicht brannte jetzt eine heiße Röte – das einzige sichtbare Zeichen, wie sehr ihn die eigenen Worte vorhin ans Herz gegriffen hatten.

„Ja, wir kamen davon ab, Herr Sanitätsrat! – Sie besinnen sich doch noch auf den Baron von Berg?“

„Ungefähr … ich habe ihn allerdings nur einmal flüchtig gesehen …“

Werres zog aus seiner Brieftasche eine Photographie hervor. „Bitte, – wollen Sie sich dieses Bild genau ansehen – es ist Herr von Berg. – Wie bekannt, konnte der Mörder Ihres Bruders seine Tat nur dadurch in ein so geheimnisvolles Dunkel hüllen, daß er anscheinend nur eine Spur zurückließ: Er mußte dem Baron auf ein Haar gleichen! – Das war noch das einzige – anscheinend das einzige, was wir von ihm wußten. Und diesen Doppelgänger werden Sie heute sehen – nicht den Mörder, wie er in gewohnter Sicherheit der blinden Menschheit ein anderes Gesicht zeigt. Sie sollen selbst urteilen, ob die Ähnlichkeit zwischen Herrn von Berg und seinem Abbilde so groß ist! Es ist jetzt ¾8, wir müssen aufbrechen. Um 8 Uhr beginnt die Vorstellung. Ja, wir gehen in ein Theater, Herr Sanitätsrat – wir werden uns die Aufführung des „Traumulus“ ansehen, die heute die hiesige freie dramatische Vereinigung im Schützenhause veranstaltet. Und bitte – fragen Sie nichts mehr – lassen Sie uns so lange von etwas anderem sprechen oder schweigen, bis Sie mir sagen werden: „Der – der ist es!“

Als die Herren die Seitenloge betraten, war es wenige Minuten vor acht. Der große Saal des Schützenhauses, vollständig in Weiß und Gold gehalten, war nicht nur einer der schönsten Festsäle der Provinzialhauptstadt X, sondern besaß auch eine Bühne, die nach den neuesten technischen Vorschriften eingerichtet war und die, was Breite und Tiefe anbetraf, selbst der Bühne des Stadttheaters nicht viel nachgab. Hier fanden die sich ziemlich regelmäßig alle sechs Wochen wiederholenden Aufführungen der freien dramatischen Vereinigung statt, die von dem dichterisch nicht unbedeutenden Landesrat Pankritius vor ungefähr fünf Jahren ins Leben gerufen wurde und deren Mitglieder sich aus den ersten Gesellschaftskreisen zusammensetzten. Für heute abend stand „Traumulus“ auf dem Programm, jene tragische Primanergeschichte, in der der blinde Idealismus eines weltfremden Schulmannes ein junges Menschenleben in den Tod treibt. – Der Saal, besonders das Parkett und die Logen, waren gut besetzt. Für die Stadt X stellten diese Veranstaltungen eine Gelegenheit dar, die sowohl den Spitzen der Militär- und Zivilbehörden und der reichen Kaufmannschaft als auch den durch ihre künstlerische Interessen in allen Kreisen verkehrenden Herren und Damen zum Rendezvous dienten. – Das an- und abschwellende Flüstern verstummte, als der dumpfdröhnende Ton eines Gongs zum dritten Male ertönte, zugleich das Licht des Kronleuchters abgedämpft wurde und die Rampenbeleuchtung der Bühne aufflammte. Der Vorhang rauschte empor. Die Szenen zeigte das Innere eines Restaurants; an einem runden Tische rechts saßen mehrere Herren, im Hintergrunde spielten zwei andere Billard.

(Fortsetzung folgt)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)